Streichquartett: Das "Osterei" des Konzertbetriebs

PROBE NEUJAHRSKONZERT 2012
PROBE NEUJAHRSKONZERT 2012(c) APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER)
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Es ist gut ein Vierteljahrtausend her, dass Haydn das Streichquartett erfand. Seine Kreation wurde zur höchsten Ausprägung des klassischen Stils – und zum "Osterei" des Konzertbetriebs.

Beinah hätten wir vergessen, dem Streichquartett zum Geburtstag zu gratulieren! Dabei ist die Kunstgattung 250 Jahre alt geworden. Ein Vierteljahrtausend Streichquartett! Präzis lässt der Geburtstag sich ja nicht terminisieren, also ist es nie zu spät für eine Würdigung. Heute passt es überdies deshalb, weil das Streichquartett in Wahrheit so etwas wie ein Osterei in der europäischen Kulturgeschichte darstellt.

Jedenfalls ist unser lieb gewordenes klassisches Konzertwesen der Quartettkultur entschlüpft wie das Küken dem Ei. Aber der Reihe nach.

Anders als bei der Symphonie stimmt in diesem Fall die Mär, Joseph Haydn hätte die Gattung erfunden. Zwar gab es vor seiner Zeit schon Werke für zwei Violinen, Bratsche und Violoncello, also vier unabhängige Stimmen ohne den bis zum Ausklang des Barock unabdingbaren „Basso continuo“. Aber Haydn hat seit den späten Fünfzigerjahren des 18. Jahrhunderts geradezu fanatisch an der Ausbildung des neuen Genres gearbeitet: aus zeittypischen Divertimenti viersätzige Werke mit raschen Ecksätzen, die einen langsamen Satz und ein Menuett (als Restbestand der Divertimento-Gattung) umfasst haben.

Mit dieser formalen Entwicklung ging die Befreiung der Einzelstimmen einher, deren Voraussetzung die Emanzipation vom Generalbass war. Wie in seinen Symphonien entwickelte Haydn auch und besonders in den Quartetten die Abkehr von der barocken „Diskussion“ eines Themas, innerhalb derer die rhythmische Bewegung in der Regel homogen blieb. Das dialogische Prinzip, Rede und Gegenrede, Argument und Gegenargument wurden zu musikalischen Parametern.

Dieser „klassische Stil“ fand im Streichquartett, von dem Goethe meinte, es repräsentiere die Unterhaltung von „vier vernünftigen Leuten“, seine sublime Ausprägung. Wie sehr Mozart von den einschlägigen Werken Haydns beeindruckt war, ist oft erzählt worden. Auch, wie viel Mühe den Meister seine Haydn gewidmeten sechs Streichquartette von 1785 gekostet haben, die er ausdrücklich „Produkt einer langen und anstrengenden Arbeit“ genannt hat.


Wie Mozart Haydn forderte. Allein, diese Stücke führten das Genre auf eine Höhe, die sogar den Gründervater noch einmal kräftig forderte: Haydns späte, zum Teil nach Mozarts Tod entstandene Quartette weiten kompositorisches Raffinement und Ausdrucksmöglichkeit noch aus.

Beethoven trieb – wie auch als Symphoniker – die Form in ungeahnte Bereiche vor. Nur das Wunder Schubert konnte noch nachsetzen und vermochte, romantischen Subjektivismus mit klassischer Formgebung noch einmal in Balance zu bringen. Welchen Gipfel er erreichte, war nicht einmal ihm selbst bewusst: Quartette, meinte er, würden ihm „den Weg zur Symphonie bahnen“.

Späteren Generationen schien der Pfad zum Streichquartett weitaus dorniger. Wie respektvoll demonstriert Opernmeister Verdi auf dem Höhepunkt seines Schaffens im vierstimmigen Satz sein handwerkliches Können! Ähnlich verhält es sich mit den beiden großen französischen Impressionisten: Als Maurice Ravel dem älteren Claude Debussy sein Streichquartett vorlegt, rät dieser, nicht eine Note an der Partitur zu ändern: Gemeinsam mit seinem g-Moll-Quartett, das ebenfalls ein Solitär bleiben sollte, schien ihm dieses Werk geeignet, die Tauglichkeit der neuen, impressionistischen Tonsprache sozusagen in der Königsdisziplin unter Beweis zu stellen.

Zu beachtlicher Fülle wuchs das Quartettrepertoire im slawischen Raum: Dvorák gelang eine Reihe außerordentlicher, zuletzt auch formal neuartiger Beiträge. Smetana weitete nicht nur im viel gespielten „Aus meinem Leben“, sondern auch im späten, zerklüfteten, schon von drohender geistiger Umnachtung beschatteten d-Moll-Quartett das Vokabular ins Programmatische, was LeosJanáăek dann in zwei tönenden „Leseprotokollen“ – über Tolstois „Kreutzersonate“ und eigene „Intime Briefe“ – leidenschaftlich zu subjektivieren verstand.


Verstörende Tagebücher. In ähnlich verstörende Ausdruckswelten dringt Dmitri Schostakowitsch vor, der die Form des Streichquartetts wählte, um die grauenhafte Situation des Künstlers in Zeiten der Diktatur tagebuchartig zu dokumentieren – und diese Skizzen mit Versuchen klassischer Formfindung zu harmonisieren.

Daneben sind die sechs grandiosen, variantenreichen Streichquartette Béla Bartóks die einzige ausgreifende Werkfolge eines Komponisten, die für das Quartettrepertoire noch relevant wurde. Im Übrigen nutzten wichtige Exponenten der musikalischen Moderne das Quartett, um Wegmarken zu setzen. Dazu genügten jeweils ein oder zwei Kompositionen: Alban Bergs op.3 und die „Lyrische Suite“ sind nebst den aphoristischen „Stücken“ und „Bagatellen“ Anton von Weberns ideale Demonstrationsobjekte der Ziele und Sehnsüchte der Wiener Schule.

Will man es als Zufall werten, dass deren Gründervater Arnold Schönberg ausgerechnet in einem Streichquartett den Rubikon überschritt? In seinem op.10 wechselt er vom anfänglichen fis-Moll in die Freiheit der sogenannten Atonalität, wozu der Sopran singt: „ich fühle luft von anderem planeten“.

Orientierungspunkte, wohin avantgardistische Imagination führen kann, setzten auch Meister wie Witold Lutoslawski oder Roman Haubenstock-Ramati in Form von Streichquartetten. Der Nimbus der Gattung forderte die äußerste Anspannung aller Kräfte.

Er hatte schon um 1800 zur eingangs erwähnten Osterei-Funktion geführt: Ignaz Schuppanzigh, Primgeiger zunächst des Privatquartetts von Fürst Lichnowsky, später des Streichquartetts im Dienste von Fürst Lobkowitz, erfand kurz nach 1800, also zu einem Zeitpunkt, als es noch keine Konzertsäle und schon gar keine Symphonieorchester gab, das Konzertabonnement – und damit den bürgerlichen Konzertbetrieb, wie wir ihn bis heute kennen.


Haydn, Mozart, Beethoven! Von Anfang an stand das Repertoire fest. Man spielte Haydn, Mozart und Beethoven. So blieb das bis heute. Angereichert freilich durch Schubert, Schumann, Brahms und die genannten Meister sowie durch immer neue Versuche von Zeitgenossen, die sich bereit dafür fühlen, den Gipfel zu stürmen. Die Wiener Klassik aber steht im Zentrum des internationalen Kammermusiklebens, das in zahllosen Streichquartettzyklen in aller Welt sein Rückgrat gefunden hat. Durch Aufführungen und Aufnahmen der Beethoven-Quartette definieren sich seit jeher die weltreisenden Ensembles, seien sie nun Amadeus, seien sie LaSalle, Borodin oder Juilliard, Végh oder Alban Berg benannt. Eine ganze Riege junger Quartette versteht es, die technisch wie musikalisch eminenten Qualitätsvorgaben dieser Vorbilder oft sogar noch zu übertrumpfen: Das Streichquartett wird also voraussichtlich auch seinen 300. Geburtstag in voller Blüte feiern.

Historie

Um 1760: Joseph Haydn arbeitet an vierstimmigen „Divertimenti“.

1781: Sechs Streichquartette op. 33 von Haydn publiziert.

1785: Mozart „kontert“ mit sechs Haydn gewidmeten Quartetten.

1798–1827: Beethoven komponiert 16 Streichquartette.

1804: Ignaz Schuppanzigh legt das erste Konzertabonnement auf: Quartettabende im Hotel „Zum Römischen Kaiser“.

1824: Einzige Aufführung eines Streichquartetts von Franz Schubert zu Lebzeiten des Komponisten.

1893: Claude Debussy schreibt sein Streichquartett.

1908: Skandalumwitterte Uraufführung des Zweiten Streichquartetts von Arnold Schönberg.

1996: Ein für die Salzburger Festspiele konzipiertes Quartett von Karlheinz Stockhausen, in dem die vier Spieler in Helikoptern musizieren, wird in Amsterdam uraufgeführt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2015)

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