Bartoli als Iphigenie: Mit der Kraft des Pianissimo

FOTOPROBE 'IPHIGENIE EN TAURIDE'
FOTOPROBE 'IPHIGENIE EN TAURIDE'APA/MONIKA RITTERSHAUS
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Glucks "Iphigénie en Tauride" mit Cecilia Bartoli bei den Salzburger Pfingstfestspielen in der Regie von Leiser/Caurier: szenisch wie musikalisch reduziert, aufs Wesentliche konzentriert.

Und an dem Ufer steh ich lange Tage / Das Land der Griechen mit der Seele suchend“, lässt Goethe seine Iphigenie im Exil bei den Taurern sagen. Das Meer verheißt Freiheit – auch in der Eröffnungspremiere der Salzburger Pfingstfestspiele. Ihrer Inszenierung von Glucks „Iphigénie en Tauride“ stellen die Regie-Dioskuren Moshe Leiser und Patrice Caurier ein filmisches Motto voran: einen Ausschnitt aus „La mer“ des französischen Künstlers Ange Leccia, zu Beginn der Teile schwach auf den Vorhang projiziert.

Aus der Vogelperspektive ähnelt Brandung aufsteigenden düsteren Figuren, in denen man die Erinnyen sehen könnte. Während der Handlung der Oper bleibt der Ozean jedoch unseren Blicken entzogen: Wenn er sich zum Ungeheuer wandelt und sich in jenem Sturm auftürmt, den Gluck nach zwei Partiturseiten idyllisch wiegender Ruhe im Orchester wüten lässt und der durch Donnergetöse unterstrichen wird, wirkt er dadurch umso bedrohlicher, dass wir ihn bloß hinter dem riesigen Eisentor vermuten müssen, das die Szenerie nach hinten abschließt.

Im Betonbunker. Bühnenbildner Christian Fenouillat lässt Iphigénie und ihre Priesterinnen nämlich in einem neonbeleuchteten Betonbunker hausen, gekleidet in Kittelschürzen und Kapuzenwesten, Schlapfen und Pelzstiefelchen, die alle direkt aus dem Sammelcontainer stammen könnten: Flüchtlingsstigmata unserer Tage (Kostüme: Agostino Cavalca). Doch getreu Tschechows dramatischem Prinzip, dass eine auf der Bühne platzierte Waffe auch abgefeuert werden müsse, wird das Tor am Ende nicht bloß von Pylades Truppen durchbrochen, sondern kippt auch noch nach hinten hoch und gewährt den Blick auf „La mer“, das nun zur Realität geworden ist – die Aufhebung des Atridenfluchs durch Diana als Dea ex Machina, die hier in Gestalt der vom Scheitel bis zur Sohle golden glänzenden Rebeca Olivera die wohlklingend frohe Botschaft verkündet.

Doch nicht als wahrhaft mitfühlende Gottheit, sonder eher als kapriziöses Wesen aus höheren Sphären, das nur zufällig Anteil am Schicksal der Irdischen zu nehmen scheint: Wenn sie zum Schlusschor wohlgefällig mitwippt, wirkt ihre Gunst nicht von Dauer. Und das Meer steht den Fliehenden als Herausforderung noch bevor...


Glucks Gradlinigkeit. Das mag nach etwas willkürlichen Aktualisierungen klingen, doch versagen sich die Regisseure dergleichen öfter, als dass sie ihm nachgeben. Sie streben eine innere Dramatik an, eine Kunst der Zurücknahme, Hand in Hand mit der musikalischen Interpretation. „I feel pretty“ darf Cecilia Bartoli nächstes Jahr singen: Da hat sich die Leiterin der Pfingstfestspiele unter dem Motto „Romeo und Julia“ überraschend als Maria in „West Side Story“ gecastet und erlebt zumindest ein kurzes Glück mit Tony. Diesmal ist sie jedoch eine schwer Gezeichnete, die sich gleich zu Beginn erhängen will: die geknechtete Handlangerin eines Terrorregimes, das Fremde ausnahmslos exekutiert.

Fernab barocker oder Rossini'scher Koloraturgeläufigkeit leitet Bartoli als Iphigénie ihren ganzen gurrenden Überschwang in die schmucklose Gradlinigkeit von Glucks Gesangslinien um, die sie im Piano und Pianissimo mit enormer Intensität vorträgt – nicht zuletzt, wenn sie schreckensstarr erkennt, dass sie ihren Bruder opfern soll. Ihren ohnehin zart verhangenen wie indirekt erscheinenden Klang kann sie dafür mit großer Ausdrucksstärke nützen. Am Dirigentenpult versucht Diego Fasolis der Bartoli in dieser Kunst mit seinen „Barocchisti“ so nahe wie nur irgend möglich zu kommen.

Es gelingt nicht durchwegs, Unebenheiten schleichen sich ein, aber im Ganzen wandeln sie gemeinsam mit expressiver, differenzierter Sicherheit auf dem schmalen Grat, den Gluck seinen Interpreten weist: Ein Fehltritt, und der sublimierte Schmerz dieser oder jener noblen Durkantilene würde in Banalität kippen ... Aber auch die naturalistisch anmutende leichte Schärfe des Coro della Radiotelevisione Svizzera fügte sich logisch ein ins musikalische Gesamtbild.

Christopher Maltman ist ein glaubwürdig von Gewissensqualen gepeinigter Orest, dessen Schreckensvisionen nebst horrorfilmartig aus dem Souffleurkasten aufsteigender, blutüberströmter Mutter die einzige plakative Szene des Abends darstellt. Maltman zeigt nicht nur seinen kernig-virilen Bariton, sondern auch seinen nackten Körper, wenn er für den Freund in den Tod gehen will: Als edles Opfer ähnelt er einer antiken Statue, während die personifizierte Xenophobie längst in Gestalt eines saturierten Wohlstandsbürgers auftritt.

Michael Kraus fuchtelt als bebrillter Thoas in Anzug und Krawatte mit einer Pistole vor dem Bauch herum und grollt stimmlich, doch der eigentliche Gegenspieler des Vielgeprüften bleibt das Schicksal. Bezeichnend, dass sein Tod mit dem gleichen Schnitt durch die Kehle verläuft, mit dem Iphigénie ihren Bruder hätte opfern sollen: Als Pylade führt Topi Lehtipuu das Messer, der sich nach seinem enttäuschenden Almaviva in Paisiellos „Barbiere“ im Theater an der Wien wieder in besserer stimmlicher Verfassung präsentieren konnte – bei den Sommerfestspielen wird Rolando Villazón seine Partie übernehmen.

Auf die Ballettszenen wird verzichtet: Das ist historisch natürlich nicht korrekt, aber verdichtet den Abend in wohltuender Weise.


Misstrauen gegen die Schönheit. „Salzburg ist schön, und der Schönheit wird reflexhaft misstraut“, gibt Sven-Eric Bechtolf im „Presse“-Interview zu bedenken. Dem stehen Publikumsreaktionen gegenüber, die den wie üblich und zu Recht angesichts der Bartoli hochbrandenden Jubel beim Regieteam doch mit einigen Buhs versetzten: Wenn zu viel Wahrheit die Schönheit anknabbert, wird es manchen eben flau im Magen. Bechtolf gab tags darauf selbst einen markanten Thoas – bei einer Lesung von Goethes „Iphigenie in Tauris“ im Mozarteum, bei der Buhlschaft Brigitte Hobmeier in der Titelrolle aus Somnambulität erwachte und in Michael Rotschopf einen eindringlichen Bruder hatte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2015)

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