Jubiläumsedition: Alles, was Mozart komponiert hat – und mehr

 Sah der 1756 in Salzburg als Joannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart getaufte, 1791 in Wien gestorbene Mann so aus? Mozart-Forscher Cliff Eisen vom King's College in London präsentierte im März 2008 dieses Bild, möglicherweise gemalt von Joseph Hickel (1736–1807).
Sah der 1756 in Salzburg als Joannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart getaufte, 1791 in Wien gestorbene Mann so aus? Mozart-Forscher Cliff Eisen vom King's College in London präsentierte im März 2008 dieses Bild, möglicherweise gemalt von Joseph Hickel (1736–1807).(c) APA
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Zum 225. Todestag von Wolfgang Amadeus Mozart erschien eine Box mit 200 CDs und zwei Büchern, die sämtliche erhaltene Werke des Komponisten, eingeschlossen alle Fragmente, dokumentiert und kommentiert.

Das gab es zwar schon einmal, aber in solcher Ausführlichkeit und so schön dokumentarisch begleitet hat man den Komponisten Mozart noch nie geehrt. Deutsche Grammophon und Decca haben ihre eigenen Archive und die 16 weiterer Labels durchstöbert und eine Gesamtedition des Mozart'schen Schaffens herausgebracht, die 200 CDs umfasst und nicht weniger als sechs Kilo auf die Waage bringt.

Derartige Rekordmeldungen sind im Kulturbereich zwar verpönt. Doch werfen die Zahlen auch ein Licht auf die Produktivität des Komponisten, der in den knapp 30 Jahren seines Schaffens ein Lebenswerk hervorgebracht hat, das im Hinblick auf die Reichhaltigkeit und Vielschichtigkeit – vom Instrumentalsolostück bis zur Oper und zum großen Oratorium – wirklich sämtliche Ausdrucksbereiche der Musik umfasst und sämtliche Genres um bedeutende Repertoirestücke bereichert hat.

Dies nachzuvollziehen gelingt dem Besitzer der neuen Edition auf lustvolle Weise. Wer mag, kann chronologisch vorgehen und sich in ein Mozart-Studium der besonderen Art vertiefen. Wichtiger Führer durch die schwer überschaubare Sammlung ist eine spezielle Ausgabe der aktuellen Version des Köchel-Verzeichnisses mit Verweisen auf die jeweiligen CDs, auf das Kompositionsdatum und den Platz des Werks in der Neuen Mozartausgabe, auf deren Grundlage die meisten der gesammelten Aufnahmen basieren.

Man kann also von den ersten kleinen Piècen, die das Wunderkind auf der großen Westreise mit Papa Leopold und Schwester Nannerl improvisierte, bis zum unvollendet hinterlassenen Requiem die künstlerische Lebensbahn nachvollziehen.

Musik, die noch nie zu hören war

Apropos „unvollendet“. Noch nie waren auch sämtliche Fragmente, die sich erhalten haben – inklusive solcher, die in jüngster Zeit erst wieder aufgetaucht sind – in Tonaufnahmen greifbar. Das gehört zu den reizvollsten Seiten einer solchen Gesamtedition, dass Gedankensplitter, die nicht weiterverfolgt wurden, greifbar – und in diesem Fall: hörbar – werden.

Sie geben Raum, in der jeweils folgenden Stille die Fantasie schweifen zu lassen. Was hätte uns dieser Mann noch alles sagen wollen? Was er uns gesagt hat, beschäftigt uns ohnehin zur Genüge. Dass viele Musikfreunde lebenslang nicht mit dem Wunder Mozart fertig werden, lässt uns die schiere Fülle des hier Gebotenen ahnen.

Dass es wenig gibt, das uns feststellen lässt, dass auch das größte Genie hie und da nur „mit Wasser kocht“, erfährt man bei dieser Gelegenheit auch. Allein die klassischen Einspielungen der vielen kleinen Tänze und Tanzfolgen wieder zu hören, die Willy Boskovsky einst mit seinem Wiener Ensemble für Decca gemacht hat, provoziert von Nummer zu Nummer Staunen; kaum ein Menuett, ein Deutscher, bei dem nicht in die Trickkiste der musikalischen Überraschungen gegriffen würde.

Was solche historischen Interpretationen betrifft, hat man sich im Übrigen eher zurückgehalten. Die Editionsleiter geben deutlich der – eher angelsächsisch basierten – Originalklangstilistik den Vorrang. In diesem Sinn ist die Box absolut „heutig“ in ihrer akustischen Erscheinung und dokumentiert den derzeitigen Stand des breiten Publikumsgeschmacks. Die dominierenden Dirigentennamen sind Christopher Hogwood und Trevor Pinnock.

Doch gibt es für manch wichtiges Werk Vergleichseinspielungen aus den historischen Archiven. An der Wiener Gesamtaufnahme von „Figaros Hochzeit“ unter Erich Kleiber konnte und wollte man auch diesmal nicht vorbei. An Klaviermeistern wie Friedrich Gulda oder Wilhelm Kempff ebenso wenig. Dass ein Mann wie Walter Klien zumindest zweimal vertreten ist, freut einen Wiener Kenner. Dass Karajan gerade einmal eine Cherubin-Arie mit Frederica von Stade begleiten darf, Nikolaus Harnoncourt Anna Netrebkos „Rosenarie“, dass Stilisten wie Fritz Wunderlich oder Leopold Simoneau gerade einmal sieben bzw. viereinhalb Minuten singen dürfen, beweist letztlich nur, dass es hier nicht um eine Bestandsaufnahme hervorragender Mozart-Interpretationen aus Geschichte und Gegenwart geht, sondern um einen üppig ausgestatteten klingenden Werkkatalog.

Als solcher ist die Box hervorragend gelungen, nicht zuletzt, weil die beiden beiliegenden Bücher biografisch wie werkanalytisch Exzellentes leisten. Ulrich Leisinger vom Salzburger Mozarteum und Cliff Eisen vom Londoner King's College gelingt es, die jüngsten Forschungsergebnisse in eine knappe, klare Erzählung einzuarbeiten und alle Interessenten anzusprechen: Wer wohlinformiert ist, wird über die konzisen Zusammenfassungen ebenso erfreut sein wie ein Mozart-Neuling, der sich rasch informieren möchte, um sich auf die Hörabenteuer einzulassen.

Verblüfft wie Mozarts Zeitgenossen

Und diese sind, das ist garantiert, immer wieder von der extremen Art. Man versuche, sich in die Zeitgenossen zu versetzen, die mitangehört haben, mit welch kühnem, ja frechem Satz sich das komponierende Kind in seiner ersten Violinsonate quasi mitten ins Musikleben katapultiert hat. Man staunt nach wie vor, wie der Salzburger Kapellmeister in einem Unterhaltungsstück (dem Divertimento KV 287) sozusagen im Handumdrehen die „unendliche Melodie“ erfindet.

Man versucht wieder und wieder, die Geheimnisse der späten Trouvaillen, vom Streichtrio-Divertimento über die Quintette bis zum Requiem, zu enträtseln – und sieht sich doch jedesmal aufs Neue nach wenigen Takten vollkommen überwältigt: Das Rätsel Mozart wächst mit jeder Begegnung. Der neue CD-Kubus, der zum 225. Todestag erscheint, sichert einem Musikfreund jahrelange Beschäftigung.

Mozart 225

Sämtliche Werke Wolfgang Amadeus Mozarts inklusive aller erhaltenen Fragmente und fraglichen Kompositionen sind auf der Neuedition enthalten. 200 CDs, gesammelt von den Labels Decca und Deutsche Grammophon, kommentiert vom wissenschaftlichen Beirat in zwei Ganzleinenbänden. Info: www.mozart225.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2016)

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