Die „Arietta“ als schier endloser Gesang

Grigorij Sokolov
Grigorij Sokolov(c) imago/Xinhua (imago stock&people)
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Grigorij Sokolov mit Haydn- und Beethoven-Sonaten: Meisterhafte pianistische Durchleuchtungen.

„Man wollte schlechterdings nicht wissen, warum Opus 111 nur zwei Sätze habe“, heißt es in Thomas Manns „Doktor Faustus“ über die geringe Neugier im fiktiven Städtchen Kaisersaschern an einem Beethoven-Vortrag – und so sei der Saal der „Gesellschaft für gemeinnützige Thätigkeit“ fast leer geblieben. Bummvoll ist dagegen der große Konzerthaussaal, wenn Grigorij Sokolov diese letzte Klaviersonate interpretiert, ihre zerklüftete Maestoso-Einleitung und das energisch-rastlose, aber immer wieder stockende Allegro, dann die langsame „Arietta“ und ihre traumhaften Abwandlungen. Sokolovs Antwort auf die Frage aus „Doktor Faustus“: Die zwei Sätze der Sonate bilden ein ausgewogenes Diptychon, gerade so, als bedeuteten sie Diesseits und Jenseits.

Also vergräbt sich Sokolov zunächst in die harschen Divergenzen, spielt das Zögerliche, Vergrübelte, Dramatische voll aus – und zeigt dabei auch, wie die grimmigen Sechzehntelfiguren zugleich perlen und hämmern können. Schlicht faszinierend, wie er dann im Finale einen nie abreißenden Erzählfluss entwickelt, wie die Spannung in der langen, über weite Strecken ätherischen Variationenkette keinen Moment sinkt – als würde ein Sänger eine halbe Stunde lang keine Luft holen müssen, sondern könnte das ganze Stück auf einen Atem singen. Auch die scheinbar den Boogie-Woogie vorwegnehmende Variation bedeutet nicht den plötzlichen Einbruch einer Gegenwelt, sondern fügt sich nahtlos ein. Und mit dem Auftritt der endlosen Triller gegen Ende wurde Sokolovs Interpretation, so wie man es sich wünscht, zur spirituellen Erfahrung.

Abgründe bei Haydn

Überaus nachdringlich hatte er nicht nur Beethovens e-Moll-Sonate op. 90 vorangeschickt, eine Vorform des dualistischen Konzepts, sondern eingangs auch drei Haydn-Sonaten. Mit ihnen zeigte Sokolov en passant, was die spätere Schulweisheit sich nicht mehr träumen lassen wollte: dass solche scheinbar formal unvollständigen Rumpfstücke (zwei- oder dreisätzig, mit einem Menuett am Schluss) in der Wiener Klassik durchaus etabliert waren. Haydns Werke stellte er als fein ziselierte Welten kontrollierter Verunsicherung dar, in denen sich die Motive oft ohne Rücksicht auf die Lehrbucherfordernisse der Sonatenform hinwegspinnen, in denen zwischen Galanteriewaren plötzlich Abgründe klaffen, wo Moll und Dur schockhaft aufeinandertreffen können: höchste pianistische Kunst und musikalische Klugheit.

Der 45-minütige Zugabenreigen zeigte das Ziel dieser Entwicklung bei Schubert und Chopin: das einzelne Charakterstück des 19. Jahrhunderts, seinerseits in Zyklen zusammengefasst. Viel Jubel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.12.2017)

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