Aldeburgh Festival: „Simple Gifts“ und vertrackte Brocken

Archivbild vom Aldeburgh Festival.
Archivbild vom Aldeburgh Festival. (c) Matt Jolly/ Aldeburgh Festival
  • Drucken

Beim Aldeburgh Festival in Suffolk, das einst Benjamin Britten und Peter Pears ins Leben riefen, lauscht man in diesem Jahr in die USA: aufbauender und düsterer Aaron Copland, zerklüfteter Charles Ives – und fünf Stunden Morton Feldman im Morgengrauen.

„'Tis the gift to be simple, 'tis the gift to be true“: Wer würde das alte Lied der Shaker-Freikirche Neuenglands noch kennen, hätte es nicht Aaron Copland 1944 in seiner Ballettmusik „Appalachian Spring“ verarbeitet? Erst das öffnete modernen Versionen bis hin zum Pop die Tür. Bei Copland fungieren die „Simple Gifts“ als eine kostbare melodiöse Intarsie, die von der fröhlichen Ahnung zum inneren Triumph anwächst: Seelen, im Reinen mit sich und der Welt. Das verfehlt seine Wirkung auch nicht in der etwas nüchternen, akkurat-direkten Deutung durch Oliver Knussen und das BBC Symphony Orchestra.

Der Geist des Liedes, die akustische Landschaft, die es ausbreitet, die Bereitschaft, das „Einfache“ und „Echte“ als Gabe zu begreifen: Das passt auch perfekt nach Suffolk und in Benjamin Brittens engere Heimat, Schauplatz des Aldeburgh Festival, das er 1947 mit seinem Lebenspartner Peter Pears gegründet hat. Bernsteins Hunderter sowie Brittens und Pears' Zeit in den USA (1939–42) liefern Anlass für einen Amerika-Schwerpunkt, wobei das Repertoire dennoch von der Renaissance bis zur Gegenwart reicht und von einer Ausstellung im Red House begleitet wird, dem zum Museum gewordenen Domizil des Paares.

Bernstein und Britten waren einander offenbar zu ähnlich im musikalischen Wirken und zu verschieden im Naturell, um echte Freunde werden zu können: jener exaltiert und überschäumend, dieser „as British as rain“, wie die „Chicago Tribune“ schrieb. Näher kam Britten dafür Copland: Dessen „Music for a Great City“, entstanden als Filmscore zu „Something Wild“ (1961) über ein Vergewaltigungsopfer in New York, wirkt wie das nachtschwarze Pendant zu Bernsteins „On the Town“. Das klang bei Knussen scharfkantig, rau und düster. Noch herber tönt die zeitlos sperrige Klaviermusik des visionären Exzentrikers Charles Ives: Seine 1919 kompilierte, kaum je gespielte 1. Sonate ähnelt strukturell dort und da sogar einer Liszt'schen Opernparaphrase – nur, dass statt einer Arienmelodie ein Ragtime im Zentrum steht, das virtuose Rankenwerk sich dornig atonal gibt und das Ganze nicht im Salon erklingt, sondern im Saloon.

Souveräne Tamara Stefanovich

Die Avantgarde-geeichte und poetisch begabte Tamara Stefanovich erfüllte das virtuose Stück mit lächelnder Souveränität. Vorausgeschickt hatte sie, inmitten von improvisatorischem Bach, Bartók'schen Vergnüglichkeiten und kapriziösem Messiaen, auch Coplands berüchtigte Variationen von 1930, die der junge Bernstein auf Partys zu spielen pflegte – zum Schrecken der Gäste.

Zwei Tage später lieferte Pierre-Laurent Aimard als Antwort und Fortsetzung Ives' berühmte, aber selten aufgeführte, weil kolossale und kolossal vertrackte, „Concord“-Sonate – in der ihm eigenen großartig fingerfertigen Verbohrtheit: Mit dieser hatte er zuvor auch Beethovens Hammerklaviersonate durchgeknetet. Dagegen wirkte das Ensemble „The Sixteen“ mit Vokalmusik von Britten und Copland geradezu kulinarisch.

Das Geschenk des Einfachen, Echten: Was das musikalisch auch bedeuten kann, erlebte nicht zuletzt eine eingeschworene, wenn auch phasenweise auf Decken und Pölstern schlummernde Publikumsschar bei Morton Feldmans absichtslos tröpfelndem „For Philip Guston“ – während pausenloser fünf Stunden, die um 4.30 Uhr früh begannen. Wie die famose Flötistin Claire Chase jeden einzelnen Ton zu einem spirituell tröstlichen Ereignis machte, wie zartfühlend ihr Anna D'Errico an Klavier und Celesta sowie Alexandre Babel am Schlagzeug antworteten, das schien alle Zeit zu verleugnen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.