Medeas Suizid mit Handgranate

Furchteinflößend präsent ist Arquez als Medea (l.). Eriksmoen als Agilea hat es daneben schwer.
Furchteinflößend präsent ist Arquez als Medea (l.). Eriksmoen als Agilea hat es daneben schwer.(c) Herwig PRAMMER
  • Drucken

Händel wirbt um Verständnis für Medea – in René Jacobs Neufassung der Oper „Teseo“ im Theater an der Wien. Gaëlle Arquez triumphiert darin als Frau, die Angst vor der eigenen Macht hat.

"Medea" wäre der treffendere Titel für Händels dritte Londoner Oper. Um Verständnis für die Beweggründe der Zauberin nämlich ging es Händel und seinem Librettisten Nicola Francesco Haym in „Teseo“, ihrem auf französischem Vorbild basierendem Dramma tragico in fünf Akten – als solches ein Solitär im Œuvre des Komponisten. Darin erzählen sie jenen Teil von Medeas Leben, in dem sie Jason und ihre Kinder bereits hinter sich gelassen hat und sich in den ganz jungen Teseo/Theseus verliebt, diesen aber an Agilea verliert.

Nicht als Kaltblütige, sondern als von innen Getriebene, Verzweifelte, von ihrer eigenen Macht Beherrschte wollten Händel und Haym Medea zeigen. Das gelang in der Uraufführungsfassung nur bedingt, weil durch Streichungen manche Handlungsstränge unverständlich wurden. Dem wirkt die Neuproduktion im Theater an der Wien nun entgegen: Der musikalische Leiter René Jacobs rekonstruierte mithilfe einer Kopie des verschollenen Händel-Autografs bisher gestrichene Rezitative und vertonte fehlende Stellen aus dem Original-Libretto in Händels Stil neu. Er verlegte Arien und Duette an Stellen, an denen sie stimmiger erschienen, strich Arien, die nur dazu dienten, stimmliche Qualitäten der Protagonisten zu zeigen. Zum Teil fügte er sogar kurze Teile anderer Händel-Opern hinzu.

Ein Seelendrama in den 1940er-Jahren

Diese Version des „Teseo“ konzentriert sich auf das Seelendrama – für das sich auch die Regisseure Moshe Leiser und Patrice Caurier vorrangig interessieren. Sie siedeln „Teseo“ in den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts an, der Palast des Egeo, eigentlich König von Athen, gleicht einem Lazarett. Kriegsversehrte werden gestützt hereinbegleitet oder auf einer Bahre über die Bühne geschoben. Man hört Detonationen. Vor dieser Kulisse bangt Agilea um ihren geliebten Teseo, der ihren Ziehvater, Egeo, im Kampf gegen feindliche Truppen unterstützt. Sie ist der Gegenpart zur mächtigen Medea, die im zweiten Akt in Robe und Pelzmantel eingeführt wird.

Sofort ist klar: Vieles hier ist widersprüchlich. Zwar singt Medea von „dolce riposo“ (süßer Ruhe), ihr Blick ist aber, obwohl durchdringend, leidend. Leiser und Caurier vermitteln, was auch Händels und Hayms Intention war: Diese Medea hat Angst vor ihrer eigenen Macht, sie fürchtet, was durch ihre Hand geschehen könnte, wenn sie sich erneut verliebt. Die hier von Jacobs wieder eingeführte Vertraute Fedra unterstützt das Verständnis für Medea. Dass sie ihr aber eine Spritze verabreicht und Medea später immer wieder zum Alkohol greift, wirkt überzeichnet, wie auch die Szene, in der Medea, von ihrer Kraft überwältigt, schweben soll, also an Schnüren über den Bühnenboden gehoben wird. In einer an sich homogenen Inszenierung sind diese Szenen, in denen es um die Magie Medeas geht, ein Fremdkörper. Riesige Finger greifen nach Agilea, wolfsähnliche Bestien werden auf Teseo gehetzt, Sessel und Vorhänge wie von Geisterhand bewegt. Viel eindringlicher vermitteln Leiser und Caurier die überbordende, sie selbst überfordernde Kraft der Medea. Darstellerin Gaëlle Arquez wird davon förmlich niedergedrückt.

Arquez gelingt als Medea ein Triumph. Von Anfang an ist sie furchteinflößend präsent. Ihr durchdringender, höchst voluminöser Mezzo und ihre dämonisch-vielschichtige Darstellung tragen den gesamten Abend. Mari Eriksmoen als Agilea hat es daneben schwer – nicht immer verdient, denn beide Sängerinnen haben einen Marathon zu bewältigen. Doch an Arquez' Volumen und Präsenz kommt Eriksmoen nicht heran.

Das Böse nach dem Happy End

Weit hinter beiden bleibt Lena Belkina zurück, als zu unscheinbarer, stimmlich oft schwacher Teseo. Benno Schachtner als Arcane und Robin Johannsen als Clizia geben das Gegenpaar zu Teseo und Agilea zwar altbacken, lassen aber stimmlich aufhorchen. Soula Parassidis als Fedra legitimiert Jacobs Wiedereinführung dieser Figur. Auch die Chorpartien, gewohnt souverän vom Arnold-Schoenberg-Chor gesungen, hat Jacobs aufgewertet. Er selbst ist am Pult der Akademie für Alte Musik Berlin erwartungsgemäß eine Instanz in der von ihm neu geschaffenen Fassung.

Christophe Dumaux als König gefällt in seiner nicht allzu großen, aber herausfordernden Rolle als sichtlich geschwächter König. Schon seine Anfangsarie, in der er vom Sieg seiner Truppen berichtet, hat er keineswegs freudig, sondern unter Schmerzen zu absolvieren. Am Ende, als Medea mit ihren Intrigen aufläuft und das Schloss verlässt, zeigt seine Lustlosigkeit beim Freudenfest: Vom Happy End ist man hier weit entfernt, auch wenn Teseo und Agilea einander nun kriegen dürfen. Und tatsächlich: Die eben noch geflohene Medea kehrt rachsüchtig zurück und wirft sich eine Handgranate in den Bauch. Starker Tobak mit einer starken Darstellerin, die vom Publikum gefeiert wurde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.