Umnachtet: Nietzsche in der Ursuppe

Umnachtet Nietzsche Ursuppe
Umnachtet Nietzsche Ursuppe(c) APN (Kerstin Joensson)
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Fortgeschrittene Mythos- und Nietzsche-Kenntnisse scheinen unerlässlich, will man an diesem „Dionysos“ einen nennenswerten Teil der überreichen Fülle von Bezügen auffassen. Die Musik ist in jeder Hinsicht virtuos.

Um just nicht mit Nietzsche anzufangen, sondern mit einem der Gründerväter der Festspiele: Als Hugo von Hofmannsthal einem Kollegenkreis sein grüblerisch-komplexes Trauerspiel „Der Turm“ vorlas, erntete er verständnisloses Schweigen – bis der alte Theaterfuchs Franz Molnar die augenzwinkernd-erlösenden Worte sprach: „Also, Niveau hat das ja nicht sehr viel. Aber so ein Reißer!“ – Womit wir bei der jüngsten, heftig bejubelten Salzburger Uraufführung wären: „Dionysos“, „Szenen und Dithyramben“, „Eine Opernphantasie“, zu der der Komponist Wolfgang Rihm selbst ein Libretto zusammengestellt hat, aus Friedrich Nietzsches Gedichtzyklus „Dionysos-Dithyramben“, dem letzten Werk vor dessen geistiger Umnachtung.

Das bedeutet den Verzicht auf eine konzise Handlung, sogar auf konkrete Charaktere: Den im Zentrum stehenden „N.“ wollte der Komponist nicht zu eindeutig mit Nietzsche gleichgesetzt wissen, und „Ein Gast“, Widerpart und Alter Ego des Protagonisten, solle keinesfalls mit Heinrich Köselitz identifiziert werden, besser bekannt unter dem (von Nietzsche erfundenen) Pseudonym Peter Gast. Dennoch verdichten sich die Texte in Rihms Szenario immer wieder zu, wie er es nennt, „Doppelbelichtungen“, bei denen Mythos und Ereignisse aus Nietzsches Leben ineinandergreifen, Assoziationen und Allusionen längst Vergangenes heranzoomen, die Gegenwart in weite Ferne rücken und die Zeit zum Raum werden lassen.

„Lebenserhaltendes Nichtverstehen“

So gesehen könnte man in „Dionysos“ eine Oper jenes Typs erblicken, auf welchen sich, ginge es nach den erbitterten Feinden sogenannten Regietheaters, die verhassten Inszenatoren bitte beschränken möchten: eine Oper nämlich, die jedes narrative Korsett sprengen und in doppeltem Sinne übergehen darf – zu schrankenloser Offenheit der Einfälle. Vom „lebenserhaltenden Nichtverstehen“ wusste Wolfgang Rihm vor der Uraufführung zu schwärmen – mit aufgeweckt-pointierter Rede ein glänzender Anwalt seiner selbst, der zur Eröffnung der Reihe „Exegese Rihm“ im Gespräch mit den Musikwissenschaftlern Jürg Stenzl und Ulrich Mosch zum neuen Werk Stellung nahm.

Dennoch scheinen fortgeschrittene Mythos- und Nietzsche-Kenntnisse unerlässlich, will man an diesem „Dionysos“ einen nennenswerten Teil der verwirrend überreichen Fülle von Bezügen auffassen. Einige wenige Beispiele: Im anfänglichen Geplänkel N.s mit den Nymphen erkennen Opernfreunde rasch ein Echo von Alberich und den Rheintöchtern oder Parsifal und den Blumenmädchen. Aber dass die folgende Kahnfahrt mit Ariadne eine Episode auf dem Vierwaldstätter See widerspiegelt, bei der Nietzsche die von ihm als „Ariadne“ verehrte Cosima Wagner, für sich gewinnen wollte, ist ebenso wenig allgemein bekannt wie der Mythos vom Flötenspieler Marsyas, dem Apoll die Haut abzog, nachdem er im musikalischen Wettkampf mit dem Gott unterlegen war. Nietzsche unterschrieb zuletzt mit „Dionysos – der Gekreuzigte“: N. ist Dionysos, ist Marsyas, ist Christus...

Assoziationen können ja, gerade wenn sie (wie bei Rihm) gleichsam von heiligem Ernst gespeist sind, nie ganz falsch sein. Nur: Umgekehrt wirkt hier auch verblüffend-erhellend „richtig“, bleibt Erkenntnisgewinn aus– da hilft auch die weitgehend Rihms Vorstellungen verwirklichende Inszenierung von Pierre Audi nichts, selbst wenn der bildende Künstler Jonathan Meese mit seiner individuellen Bühnenästhetik amüsant-spielerischen Schabernack treibt bis hin zu alienartigen Mänaden und ihrem UFO.

Die Musik ist in jeder Hinsicht virtuos. Ingo Metzmacher verwirklicht die ungemein reiche Partitur mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin von sprechenden Bläserduetten bis zu den großen Kulminationen höchst eindrucksvoll, Johannes Martin Kränzle leiht dem N. seinen wohltönenden, agilen Bariton und gibt ihm auch szenisch markante Kontur, Mojca Erdmann und Elin Rombo lassen glockenhelle höchste Töne vernehmen, während die Luft für den unerschrockenen Matthias Klink (Gast/Apollon) oben etwas dünn wird; Virpi Räisänen und Julia Faylenbogen steuern die tieferen Häteren- und Mänadenklänge bei, Uli Kirsch windet sich als abgezogene Haut.

Grotesker Walzer im Bordell

Aber die Virtuosität hat auch Schatten: Oft ist die Qualität der Ausführung beeindruckender als das Ausgeführte. Gewiss gelingen Rihm Pointen, wenn es etwa im Gebirge älplerisch tönt oder im Bordell ein grotesker Walzer um sich greift. Und ohne Legitimationsprobleme kann er auch tonale Wendungen einbringen – nicht als herbeizitierte Intarsien, sondern im musikdramatischen Fluss scheinbar zufällig sich entwickelnde, genau kalkulierte Ereignisse. Und doch wirkte einiges, pardon, wie „Rihm von der Stange“, gab es doch am ganzen Abend nur einen packenden Moment: als im zweiten Teil der Staatsopernchor eine Art von leicht knirschendem Bach-Choral anstimmte und Meese dazu in einer Projektion abstrakte Objekte auf N. niederstürzen ließ. Nur hier griffen alle musiktheatralischen Räder grandios ineinander – und man spürte, was dem Abend über weite Strecken fehlte.

Das rein Apollinische sei „nicht mehr als schön geordnete Oberfläche, eine hübsche Tapete“, während das rein Dionysische nur einen „bewegten Brei, eine dumpfe Ursuppe“ darstelle. Beides müsse im Werk erst zusammenkommen, gedankliche Schärfe und kreatürlicher Schub, so Rihm. Sein „Dionysos“ vereint beide Welten, aber nicht ideal.

Noch am 30.7., 5. und 8.8.; auf Ö1 am 30.7., 19.30 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.07.2010)

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