"Cardillac", das ist ein Wiener Opernwunder

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Staatsoper. Die Einstandspremiere der neuen Direktion wurde zum Sensationserfolg. Das Publikum bejubelte Sven-Eric Bechtolfs Hindemith-Inszenierung, Dirigent Welser-Möst und das famose Sänger-Ensemble.

Hindemiths „Cardillac“? Das verläuft unter normalen Umständen so: Journalisten preisen vorab den Mut der Intendanz, ein halb vergessenes Werk der musikalischen Moderne wieder zur Diskussion zu stellen. Die Aufführung wird freundlich und unter Betonung der Tatsache, dass man gottlob nicht die geglättete Spätfassung des Stücks gegeben hat, positiv rezensiert – und heftig beklatscht. Wer wollte sich bei „Cardillac“ als Kenner aufspielen wie im Falle des „Troubadour“ samt hohem C? Alle sind sich einig: „Cardillac“ sei eine wichtige Premiere gewesen. Nach fünf Aufführungen verschwindet die Dirigentenpartitur wieder im Archiv.

Hindemiths „Cardillac“ in Wien, Oktober 2010? Jubelstürme, glückliche Gesichter. Sänger, Regie, Dirigent, Chor und Orchester der Staatsoper feiern einen Triumph.

Vorhersehbar?

Nicht ganz. Die scheinbare Pflichtübung wurde diesmal zum dringlichen, leidenschaftlich ausgeführten Plädoyer für ein Stück, das in der eingangs geschilderten, wohlmeinenden Kulturpflegeheim-Atmosphäre endgültig zu verelenden drohte. „Cardillac“, das erfuhr man, ist ein perfekt gebauter, packender Opernkrimi.

Seit Sonntagabend sind wohl etliche Wiener Musikfreunde der Überzeugung, Hindemith sei ein Meister gewesen, wert aufs selbe Podest erhoben zu werden wie ein Alban Berg. Die Parallelen zwischen dem allseits längst als Gipfelwerk anerkannten „Wozzeck“ und dem „Cardillac“ sind – bei aller stilistischen und klanglichen Differenz – stupend. Gebündelt durch eine rigide (oft neobarocke) Formgebung, werden musikalische Ausdruckskräfte von ungeheurer Sprengkraft frei.

Lustvoller Einsatz für die Moderne

Wenn so hingebungsvoll, ja lustvoll aufgespielt wird, wie diesmal vom Staatsopernorchester unter Franz Welser-Mösts Leitung, dann beginnen die Klänge tatsächlich zu reden, in zarten Stimmungsmalereien (am Beginn des zweiten Bilds), oft aber in wild gestikulierenden Passagen, auffahrend, ungebärdig, wie es E.T.A. Hoffmanns grausamer Geschichte vom mordenden Goldschmied zukommt. Sven-Eric Bechtolfs Regie-Arbeit im Scherenschnitt-Bühnenbild von Rolf Glittenberg entspricht in ihrer kleinteiligen Choreografie der Stilisierung der Musik perfekt. Der Goldschmied Cardilllac schreitet erhaben-eitel durch ein marionettenhaft abgehackt bewegtes Tableau gegängelter Zeitgenossen. Alles scheint auf die egomanische Persönlichkeit des Künstlers bezogen.

Die Tochter, alle Käufer, das ganze Volk führt Cardillac am Gängelband – hält Paris in Atem: Wer ein Schmuckstück aus seiner Werkstatt erwirbt, stirbt. Der Goldschmied erträgt es nicht, ein Werk aus der Hand zu geben, holt „Geraubtes“ zurück. Das in der Urfassung radikal ungeschminkte Hohelied künstlerischer Ichbezogenheit wird an diesem mit expressionistischen Filmzitaten gespickten Abend atemberaubend deutlich.

Juha Uusitalo ist die besessene Zentralfigur, unerschütterlich im Glauben an sich selbst, bis in den Tod. Aus dem Wiener „Ring“ hat Wotan seinen Gegenspieler mitgebracht: Tomasz Konieczny ist vom Alberich zum Goldhändler geworden – wie schon bei Wagner liefern sich die Männer ein bezwingendes Duell im Bassbaritonregister.

Die Partien rund um die Künstler-Zentralsonne sind – ihrer Namenlosigkeit zum Trotz – alles andere denn Stichwortgeber. Ildikó Raimondi und Matthias Klink formen als Dame und Kavalier bereits die Eingangsszenen plastisch – samt Schattenrissszene zum sinnlich-bewegten Flötenduett.

Traut sich der ORF – Oper ohne Netrebko?

Zwei Heimkehrer dazu, herzlich begrüßt vom Publikum: Herbert Lippert macht sein Comeback nach 13Jahren zur Leistungsschau. Die Stimme des Offiziers treibt Hindemith in allerhöchste Höhen, ohne dass der Tenor dabei blass zu werden droht. Und Juliane Banse tanzt Cardillacs Tochter als Puppenspielrolle exquisit – ohne vom imaginären Seil zu stürzen.

Vor allem aber beweist Banse, dass man Hindemith hinreißend wohlklingend singen kann. Ihrem Sopran entströmt jene Menschlichkeit, die Hindemiths und Bechtolfs Formenspiel in ein Korsett zu zwängen scheint, die einst Adorno dem Komponisten absprechen wollte – und deren Existenz in den eloquenten, hinreißend modellierten Instrumentallinien des Orchesters wie in den Gesangsstimmen diesmal evident ist.

So kommen menschlich bewegende Momente ins böse Spiel, die aus einem scheinbar artifiziellen Musiktheater-Experiment eine anrührende Oper machen. Das ist nicht der eingangs geschilderte „Cardillac“-Effekt. Das ist eine Sensation: 2010 in Wien wurde Hindemiths Stück wirklich geboren.

Reagiert der ORF? Springen die Küniglberg-Granden über ihren Schatten und wagen „meuchlings“ eine Dokumentation dieses bedeutenden Abends?

Noch am 20., 23., 27. und 30.Oktober.

Hindemiths Oper in Wien

Die Erstaufführung in der Staatsoper mit Alfred Jerger unter Robert Heger war 1927; es gab zwei Wiederholungen.

Otto Wiener sang Cardillac unter Leopold Ludwig 1964 sechsmal, Franz Grundheber unter Ulf Schirmer 1994 bis 1996 15-mal.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2010)

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