Schauen wir in Cerhas "Spiegel"-Zerrbilder

Schauen Cerhas SpiegelZerrbilder
Schauen Cerhas SpiegelZerrbilder(c) Roland Schlager
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Das Festival Wien Modern begann mit einer Hommage an Wiens einstige Avantgarde. Es hat sich viel verändert.

Die Gesamtaufführung des siebenteiligen „Spiegel“-Zyklus von Friedrich Cerha galt einmal als schlechterdings undurchführbar. Heutzutage eröffnet das Radio-Symphonieorchester des ORF unter der Leitung seines Chefdirigenten, Cornelius Meister, das Festival „Wien Modern“ mit den „Spiegeln“ so selbstverständlich, als ginge es um Strawinsky oder Bartók.

Die „Spiegel“ sind vielleicht der wichtigste österreichische Beitrag zur Orchestermusik nach 1945– jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, da der Beobachter der Szene die Übersicht verlieren musste angesichts der stilistischen Zerspragelungen der Postmoderne.

Von deren Freizügigkeiten hat ja später dann auch Friedrich Cerha selbst ein wenig profitiert. Doch die „Spiegel“ sind Dokumente einer anderen Epoche. Ein Befreiungsschlag ganz „moderner“ Art, ein Versuch, den hermetischen Geboten und Doktrinen der Kunstdiktatur Marke Adorno/Boulez/Darmstadt auf radikale Weise zu entkommen.

Entgegengesetzte Richtung. Wo die unbedingte Gefolgschaft einer Denkungsart gefordert war, die aus Arnold Schönbergs und Anton Weberns Zwölftonstrukturen ein mathematisch kalkulierbares Netzwerk werden ließ, bar jeglicher Gefühlswerte, Musik der mechanischen Kälte, trieb es den schöpferischen Geist in eine andere, genau genommen in die entgegengesetzte Richtung.

Statt kühler Berechnung herrscht in Friedrich Cerhas Opus magnum visionäre Offenheit für Bilder, die sich wie in improvisatorischer abstrakter Malerei ergeben, die scheinbar ungeordnet aus dem Innern herausbrechen.

Es sind hochexpressive, oft angsterfüllte Tableaux, in denen jäh hereinbrechende, katastrophische Klangereignisse mit großflächigen, weiträumig strömenden Prozessen wechseln, eine Polyphonie, oder besser, Heterophonie der dicken Malpinsel.

Nicht von ungefähr hat der Komponist des Öfteren bekannt, mit solcher Musik auch Erlebnisse seiner von den Grauen des Zweiten Weltkriegs geprägten Jugend verarbeitet zu haben. Und nur die Ahnung, dass diese scheinbar unkontrolliert nebeneinander herlaufenden, aufeinander einwirkenden, sich konkurrenzierenden und einander zuweilen auslöschenden Prozesse doch von ordnender Künstlerhand vor der totalen Anarchie bewahrt werden, macht das Hören erträglich.

Klänge machen Geschichte. Das sind, wenn man sie so unmittelbar wirken lässt, wie das RSO unter Cornelius Meister das diesmal tat, existenzielle Klänge. Klänge, die Geschichte geschrieben haben, weil nicht einmal Cerhas Wegbegleiter György Ligeti, der eine Zeitlang mit verwandten Mitteln experimentierte, je ein Stück von solcher Konsequenz und Unerbittlichkeit gelungen ist.

Das weiß man mittlerweile, weil man sich einhören konnte in solche Klangwelten. Heute musiziert und „konsumiert“ man Cerha als Teil der notwendigen jüngeren Musikgeschichtsentwicklung.

Dieses Grundverständnis basiert nicht nur, aber auch auf 24 Jahren Festspielaktivität im Rahmen von „Wien Modern“. Und es basiert auf der unermüdlichen Arbeit des RSO, dessen Weiterbestand mittlerweile gottlob im Rundfunkgesetz verankert – und durch die allgemeinen Rundfunkgebühren gesichert – ist.

Chuzpe der Veranstalter. „Wien Modern“ wiederum wäre – wie jede Avantgarde-Pflege – undenkbar ohne finanzielle Intervention der Kulturpolitik. Kulturstadtrat Mailath-Pokorny verkündete zum Auftakt, den Sparstiftzeiten zum Trotz eine fünfprozentige Subventionserhöhung (!) für das Festival durchgesetzt zu haben. Warum er sich anhören musste, wie unverschämt wenig man hierzulande für Neue Musik tut, bleibt ein Rätsel. Oder Chuzpe – wie man will.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2011)

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