Gogol – großer Russe oder großer Ukrainer?

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Etliche berühmte „russische“ Künstler haben ukrainische Wurzeln: Über das Ukrainische an Kasimir Malewitsch, Sergei Prokofiew, Michail Bulgakow oder Nikolai Gogol – und sogar Anton Tschechow.

Dieses Volk sei „unwissend, arm, zerschnitten und schön“, schrieb Joseph Roth 1928 über die „ukrainische Minderheit“. Sein Geburtsort Brody nahe Lemberg lag, als Roth geboren wurde, noch in Galizien und der Habsburgermonarchie, heute liegt er in der Ukraine. Roth hat ihm in seinem Roman „Radetzkymarsch“ ein Denkmal gesetzt, in Form des Städtchens, in dem die Garnison seiner Hauptfigur stationiert ist. Das „große Volk“ der Ukrainer machte besonderen Eindruck auf ihn, als er für Reportagen durch Osteuropa reiste. Dass die mächtigen „Weltaufteiler“ den Ukrainern keinen eigenen Staat gönnten, verstand er nicht.

Heute haben sie einen, heute feiern sie auch ihren Nationalfeiertag. Vor genau 24 Jahren verabschiedete das ukrainische Parlament die Erklärung der Unabhängigkeit von der Sowjetunion, seit der Ukraine-Krise kämpft es nur noch mehr um eigene Helden. Da spielt auch die Berufung auf das künstlerische Erbe eine Rolle – und der Versuch, sich große Künstler „zurückzuholen“. Etliche weltberühmte verstorbene Schriftsteller, Komponisten und Maler gelten bis heute nicht nur in Russland, sondern auch im Westen einfach als Russen – eine Folge der langen russischen Herrschaft. Die Künstler lebten im Russischen Reich oder später der Sowjetunion, schrieben in der Sprache der (auch kulturell) Mächtigen, strebten nach Moskau und Sankt Petersburg.

Gogols heiles ukrainisches Landleben

Wie viele im Westen etwa denken bei Nikolai Gogol an die Ukraine? Für Dostojewski war dessen 1842 erschienene, bis heute berühmteste Erzählung „Der Mantel“ ein Gründungstext der russischen Literatur („Wir alle sind dem Mantel Gogols entstiegen“). Gogol schrieb ja auch auf Russisch und kam als junger Mann nach Sankt Petersburg; geboren wurde er allerdings in Welyki Sorotschynzi im Herzen der Ukraine als Sohn eines kleinen Gutsbesitzers, er wuchs zweisprachig auf, hing sehr an der ukrainischen Kultur, und viele seiner früheren Erzählungen spielen im liebe- und humorvoll geschilderten ukrainischen Landmilieu – das Gogol auch als „echte“ Gegenwelt zur russischen Hauptstadt(un)kultur darstellt. Gerade mit Gogol hatten ukrainische Nationalisten später freilich ihre Probleme, denn er schrieb auf Russisch und verfocht wie die damalige Elite die Idee einer kleinrussischen Identität – ein Begriff, der auch von Tschaikowskys zweiter Symphonie, der „Kleinrussischen Symphonie“, bekannt ist; Kleinrussland nannte man im Russischen Reich das Gebiet der heutigen nördlichen Ukraine. „Wir Kleinrussen und Großrussen brauchen eine gemeinsame Dichtung . . . Der Kleinrusse und der Großrusse, das sind die Seelen zweier Zwillinge“, schrieb Gogol. Spätere Verfechter eines ukrainischen Nationalstaats sahen ihn denn auch als Verräter. Erst heute wird er immer mehr als Vertreter zweier Kulturen gewürdigt.

Ist der Autor von „Der Meister und Margarita“ Russe oder Ukrainer? Der vor 75 Jahren verstorbene Michail Bulgakow ging aus einer russischen Umfrage als zweitgrößter russischer Schriftsteller hervor, aus einer Umfrage in der Ukraine als drittgrößter ukrainischer Dramatiker . . . Anders als Gogol war Bulgakow ethnischer Russe, doch geboren wurde er in der heutigen ukrainischen Hauptstadt Kiew, der er auch mit seinem Roman „Die weiße Garde“ ein Denkmal gesetzt hat.

Sogar um Anton Tschechow wird gestritten. Dieser hatte eine ukrainische Großmutter und zog sich in späten Jahren auf die Krim zurück, wo man in Jalta heute seine „weiße Datscha“ besichtigen kann. Dort schrieb er etwa die „Drei Schwestern“ und „Der Kirschgarten“. Um die Erhaltung des zerfallenden Hauses haben die ukrainische und die russische Regierung sich vor Putins Annexion der Krim jahrelang gestritten. Dies hinderte den früheren ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch freilich nicht daran, Tschechow vor fünf Jahren zu dessen 150. Geburtstag als großen „Ukrainer“ zu preisen. Putin und Medwedew konterten nach der Krim-Annexion mit einem Besuch in Tschechows Haus.

Auch einen großen Komponisten könnte die Ukraine für sich reklamieren, den dort geborenen und zunächst dort aufgewachsenen Sergei Prokofjew. In der Westukraine spielt auch seine Oper „Semjon Kotko“.

„Die schönsten Lieder Osteuropas“

Die ukrainischen Lieder seien „die schönsten, die ich im Osten Europas gehört habe“, schrieb Joseph Roth. Sie seien so einfach wie „die zackigen bunten Muster an den Kragen und Manschetten der Hemdblusen, die das Volk trägt und in denen ein tiefes, fast bräunliches Rot mit einem ganz dunklen Gewitterwolkenblau abwechselt.“ Diese Muster auf der Tracht, die Häuser der Ukrainer und ihre Volkskunst hätten die Bilder des Großmeisters der russischen Avantgarde Kasimir Malewitsch geprägt, schreibt die in den USA lehrende Kunsthistorikerin Myroslava Mudrak. Malewitschs Eltern waren Polen, wohnten aber in der Nähe von Kiew.

Auch einer der berühmtesten lebenden russischen Maler stammt aus der Ukraine, der Konzeptkünstler Ilja Kabakow. Mit etwas Mühe lässt sich sogar Andy Warhol zum Ukrainer machen: Er wurde in der heutigen Slowakei geboren, aber seine Vorfahren gehörten zum Volksstamm der Russinen – die in der Ukraine als Ukrainer gelten . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2015)

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