Ich bin schon draußen!

Birgit Jürgenssen: „Ich möchte hier raus“, 1976.
Birgit Jürgenssen: „Ich möchte hier raus“, 1976. Courtesy Galerie Hubert Winter
  • Drucken

Birgit Jürgenssen in der Galerie Hubert Winter: Sie ist auch auf dem Kunstmarkt das Paradebeispiel für die Entdeckung der feministischen Avantgarde.

Das gibt es in kaum einer Stadt: In Wien ist eine Straße nach einer zeitgenössischen Künstlerin benannt. Jürgenssenweg. Eher ein Pfad als ein Weg, ohne Häuser, am Rand des Geländes vom Gaswerk Leopoldau gelegen, wurde diese zuvor namenlose Verkehrsfläche im Februar 2014 zum Erinnerungsort für die 2003 verstorbene Birgit Jürgenssen.

Vergangenes Jahr besuchten Astrid Nylander und Stine Olgod diesen Ort und dokumentieren ihre Erkundung in einem Hörstück für „Audiocall“, dem „Audiozine zu Kunst und Feminismus“. Es ist eine Hommage an die Wiener Künstlerin, aber auch eine Spurensuche. Denn Jürgenssen gilt einer jungen Generation als Pionierin einer anderen Kunstgeschichte. In ihren Zeichnungen und Fotoarbeiten hinterfragte sie schon in den 1970er-Jahren humorvoll die Rolle der Frau, machte ihren Körper zum Material, ihr Leben zum Thema, oft in der Aneignung männlicher Posen: Ein Oberarm mit geballter Faust liegt auf einem Tisch. Statt des Bizeps schwillt eine Brust heraus – „Emanzipation“ nannte Jürgenssen diese Zeichnung von 1973, eine Kampfansage mit weiblichen Mitteln.

„Ich möchte hier raus.“ Mit den Künstlerinnen ihrer Zeit teilte sie die Forderung, das Private als Politisches zu sehen, denn dort beginnen die Änderungen – was sie in einer heute berühmten Fotografie von 1976 zusammengefasst hat: Kokett blickend und brav gekleidet, drückt sie Hände und Gesicht gegen eine Glasscheibe. Auf dem Kragen steht „Ich möchte hier raus“. Es ist ein Ausbruchsversuch aus der Rolle der bürgerlichen Hausfrau, aus dem Konformitätszwang ihrer Zeit.

Einige ihrer Zeichnungen, Collagen und Fotoarbeiten sind jetzt zusammen mit der Soundinstallation von Nylander & Olgod in der Wiener Galerie Hubert Winter zu sehen. Da krümmt sich etwa eine nackte Frau auf einem Fauteuil zusammen, rundherum ist ein Gehirn angedeutet – das Bild der Frau, angepasst an vorgegebene Räume (60.000 Euro). In einer anderen Zeichnung sehen wir eine affenartig behaarte Frau in der Haltung eines Primaten, bedrängt von drei Händen, die festhalten, herunterdrücken, heranlocken (90.000 Euro).

Solche Werke werden der feministischen Avantgarde zugeschrieben. Dieser Begriff bezeichnet die Auswirkungen des Feminismus auf die Kunst der 1970er-Jahre und wurde geprägt von der Wiener Kunsthistorikerin Gabriele Schor. Als Leiterin der Sammlung Verbund legte sie schon 2004 einen Schwerpunkt auf diese Kategorie und kuratierte die gleichnamige Ausstellung, die seit 2010 durch verschiedene Institutionen wandert, im Oktober 2016 als vorletzte Station ins Wiener Museum moderner Kunst.

Für die Ausstellung sichtete Schor Nachlässe auf Dachböden, erkundete verstaubte Archive, kaufte Werke für die Sammlung Verbund an und präsentiert 34 Künstlerinnen in der Ausstellung. Ihre Auswahl bewirkt in jeder Stadt überraschtes Staunen. Denn Schor betont nicht nur die historischen Pionierleistungen dieser Kunst, sondern zeigt auch viele nahezu vergessenen Künstlerinnen.

Allen Werken gemeinsam ist die Vorliebe für die damals neuen Medien Fotografie, Film und Performance – willkommene Alternativen zu der männerdominierten Malerei. Gerade für die künstlerische Fotografie gilt Jürgenssen als bedeutende Pionierin. Sie experimentierte mit Polaroids, Fotogrammen, Cyanotypien, Mehrfachbelichtungen und Hinzufügungen. So überzog sie Fotos mit einem durchsichtigen Stoff, um „der Kälte des Mediums Sinnlichkeit zu geben, durch Verschleiern sichtbar zu machen“, wie sie einmal erklärte.

Die mehrteiligen Arbeiten nannte sie ein „Puzzle über die Ursachen der erotischen Manipulation und ihr Verhältnis zum Selbstbewusstsein. Ein Spiel vom Selbst und dem anderen, um Subjekt und Objekt, dem Privaten und dem Öffentlichen.“

Einige der späten Fotografien kosten in der Galerie Winter 50.000 Euro, die Zeichnungen aus den 1970er-Jahren zwischen 45.000 und 90.000 Euro. Das ist angesichts der kunsthistorischen Bedeutung dieses Werks sicher angemessen, für Kunst aus Österreich allerdings überraschend hoch angesetzt. „Die Karrieren einiger österreichischer Künstlerinnen wie Renate Bertlmann fangen jetzt erst an, aber Jürgenssen hatte ähnlich wie Valie Export als Pionierin der feministischen Avantgarde schon früh Erfolg“, erklärt Schor dieses Preisniveau.

Verkauft nach New York und Paris. Hinzu kommt eine mehr als zehnjährige postume Karriere mit Galerien in Wien, New York (Fergus McCaffrey) und London (Alison Jacques). Wichtige Werke wurden vom MoMA in New York, der Tate in London, dem Centre Pompidou in Paris angekauft, sind in wichtigen Privatsammlungen von Singapur bis in die USA. Aber auch Künstler wie Anish Kapoor oder jüngst Cindy Sherman kaufen Werke von Jürgenssen an. Denn nicht nur die junge Generation erkundet, wie die Wiener Künstlerin den Weg für ein neues Rollenverständnis der Frau bereitet hat.

Der Wiener Gemeinderatsausschuss dagegen scheint noch weit von dieser Einschätzung entfernt zu sein: Als Nylander & Olgod endlich den Jürgenssenweg in Floridsdorf fanden, lachten sie entsetzt: „It feels like a joke“, hören wir ihren Kommentar in der Soundinstallation. Im Wiener Straßenregister mag Jürgenssens Name für ein schlichtes Gelände stehen. Auf dem Kunstmarkt gilt sie als wegweisend.

Galerie Hubert Winter, „Jürgenssenweg“, Breite Gasse 17, bis 27. 2.

„Feministische Avantgarde, Kunst der 1970er-Jahre aus der Sammlung Verbund, „ab 23. 9. 2016 in The Photographer's Gallery, London; ab 14. 10. 2016 im Mumok Wien

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.