Von der Schönheit der Bilderrätsel

Laura Letinsky lässt einfachste Dinge wie ein bisschen schräge, fragile, aus Zeit und Raum fallende Wunderwerke erscheinen. Ihre Stillleben laden zum geduldigen Betrachten ein: „Untitled #117 (Hardly More Than Ever)“.
Laura Letinsky lässt einfachste Dinge wie ein bisschen schräge, fragile, aus Zeit und Raum fallende Wunderwerke erscheinen. Ihre Stillleben laden zum geduldigen Betrachten ein: „Untitled #117 (Hardly More Than Ever)“.(c) Laura Letinsky/Galerie m Bochum
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Leere Puddingbecher und einsame Kirschkerne: Das Kunst-Haus Wien zeigt eine feine Auswahl an Stillleben und setzt dabei auf heimische und weibliche Künstler.

Das beste Beispiel ist der Apfel. Wann darf er schon einfach ein Apfel sein? Eine Rose eine Rose? Ein Schmetterling? Die Kunst hat die Dinge früh in Stellung gebracht – den Apfel für die Verführung, die Rose für die Liebe, den Schmetterling für Schönheit und Verwandlung. So musste man der Zusammenstellung der Dinge, dem Stillleben, immer schon mit Skepsis gegenüber dem Anspruch begegnen, doch eh nur schön sein zu wollen. Misstrauen war angebracht. Misstrauen ist angebracht. Wenn wir Dinge zueinander in Relation setzen, dann suchen wir panisch nach Bedeutung, nach Botschaft. Es ist unheimlich. Im Museum ist das so. Auf Instagram ist das so. Und seit zehn, 15 Jahren auch verstärkt in der Kunstfotografie.

Das ist jedenfalls die Beobachtung der in Berlin lebenden Fotografiespezialistin Maren Lübbke-Tidow (früher „Camera Austria“), die eine feine Gruppenausstellung im Kunst-Haus Wien anstieß. Warum seit den 1970er-Jahren jetzt wieder vermehrt die Dingwelt in die Fotografie wuchert, erklärt Lübbke-Tidow mit der zunehmenden Auflösung der Grenzen zwischen Kunst, Popkultur und Design. Dadurch hätten sich die angewandte und die künstlerische Fotografie angenähert.

Man könnte aber die Gründe genauso im Grundgefühl dieser Zeit suchen, könnte überlegen, ob nicht eine gewisse Melancholie und ein Überdruss an Geschwindigkeit dazu führt, dass Künstler gerade besonders genau hinschauen. Und auch uns besonders genau hinschauen lassen. Denn Stillleben sind Rätselbilder. Man muss die bunten Punkte auf den grauen Fotos von Zoe Leonhard schon studieren, bis man merkt, dass es sich um alte Kaugummis auf Betonböden handelt. Muss lang überlegen, wie Leo Kandl die Kristallgläser übereinander schwebend erscheinen lassen kann. Muss dreimal kombinieren, um die unterschiedlichen Winkel und Bildausschnitte ein und desselben Raumecks zu begreifen, das Barbara Probst mit drei Kameras gleichzeitig aufnahm. Eine wunderschöne Arbeit.

Die tote Meise im Eiswürfelfach

Andrea Witzmann setzt das niederländische Luxusmittel-Stillleben sehr subtil ins Heute um, wenn neben den Austern etwa Sushi-Stäbchen ins Bild ragen oder im Eiswürfelfach malerisch eine tote Meise liegt. Eine Entdeckung sind auch die extrem zarten, fragil wirkenden Kompositionen von Laura Letinsky, die einfachste Dinge wie ein bisschen schräge, fragile, aus Zeit und Raum fallende Wunderwerke erscheinen lässt: einen leeren Puddingbecher. Oder eine einsame Kirsche und ein paar Kerne. 26 Künstler hat Lübbke-Tidow ausgesucht, die Auswahl hätte man wohl ins schier Endlose erweitern können. Es ist aber der Wunsch ablesbar, einen Fokus auf österreichische sowie konzeptuelle Ansätze zu setzen. Fast die Hälfte davon sind übrigens Frauen, was man sogar historisch ableiten könnte – lang war das im Kontext der Malereigattungen am geringsten bewertete Genre Stillleben das einzige, das auch Malerinnen zu lernen erlaubt war. Was für eine Fehleinschätzung der Relevanz. Das Bilderrätsel, wie könnte man politische Botschaften besser verstecken? Die Schönheit, womit anders könnte man den Betrachter mehr locken? Das Memento mori, was gibt es Tragischeres? Memento tarditatis, gedenke der Langsamkeit, könnte man dem Deutungskanon des Stilllebens hinzufügen.

„Stillleben. Eigensinn der Dinge“. Untere Weißgerberstraße 13, 1030 Wien, bis 17. 2., tägl. 10–18 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2018)

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