62. Berlinale: Goldener Bär für "Cäsar muss sterben"

Berlinale Goldener Baer fuer
Berlinale Goldener Baer fuer(c) Reuters
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Als bester Film wird "Cäsar muss sterben" von den Taviani-Brüdern gewählt. Silber gibt es für ein ungarisches Roma-Drama und ein Ex-Straßenkind aus Kinshasa. Die Österreicherin Birgit Minichmayr geht leer aus.

Es mag abgedroschen klingen, aber ja, Film ist immer noch mehr als die Summe seiner einzelnen Teile. Eine Einsicht, die wichtig ist für eine Jury, der innerhalb von knapp zwei Wochen an die 20 Arbeiten vorgesetzt werden, die daraus dann rasch die Jahrgangsbesten ernennen soll.

Und so geht der Goldene Bär (für den besten Film, so heißt es zumindest) der Berlinale 2012 an eine Arbeit, die der Kinokunst keine neue Perspektive schenkt, aber das Lebenswerk von lang gedienten Filmemachern auf überraschende Weise zum Abschluss bringt. „Cesare deve morire“ („Cäsar muss sterben“) nennen die italienischen Brüder Paolo und Vittorio Taviani, beide jenseits der 80 und im Geschäft seit den frühen Sechzigerjahren, ihre herzzerreißend altmodische Dokufiktion über Insassen des römischen Rebibbia-Hochsicherheitsgefängnisses, die William Shakespeares „Julius Cäsar“ nachspielen. Über sechs Monate hat der Dreh gedauert: ein langwieriger Prozess der peniblen Vorbereitung, der Behördendiskussionen und der sanften Annäherung an Männer, denen die Tavianis vorurteilsfrei begegnen. Die Verbrechen haben sich in die Gesichter gefressen, die zur Ausdrucksfläche der Shakespeare'schen Tragödie werden: Der Mafiosi mit den Pockennarben gibt den Cassius, ein stämmiger, staatsmännisch wirkender Kerl, verurteilt wegen „diverser Verbrechen“, wird zum Cäsar. Der Reiz des Films entwickelt sich aus dem Ineinanderschieben von Bildungsbürgertum und Bürgerschreckgespenstern. Wie die Männer die jahrhundertealte Geschichte um Misstrauen, Verrat und Mord mit ihren eigenen Erfahrungswerten kreuzen und in ihre Lebenswelt reißen, das ist unterhaltsam wie anmutig.

Die heurigen Berlinale-Preise tragen ganz klar die Handschrift des Jury-Präsidenten Mike Leigh: Der britische Sozialrealist gilt als schwierig im Umgang und als Grantscherben, die von ihm und seinen Ko-Juroren (darunter die Schauspielstars Jake Gyllenhaal und Charlotte Gainsbourg) vergebenen Auszeichnungen wirken beinahe wie eine Verlängerung seines Kinokosmos. Neben der sanften Kinopädagogik der Altgardisten Taviani konnte noch der junge Ungar Bence Fliegauf punkten: Sein schwer zugängliches, streng naturalistisches Drama „Csak a szél“ („Just the Wind“), ausgezeichnet mit dem Großen Preis der Jury, erzählt einen Tag aus dem Leben einer Roma-Familie. Eingefasst in ein Klima der Angst, Verfolgung und Anfeindung, angesiedelt vor dem realen Hintergrund von Serienmorden an Roma-Familien in den Jahren 2008 und 2009, reißt Fliegauf den Konflikt ins radikal Intime und verunmöglicht oberflächliche Sentimentalitäten. Diese Auszeichnung basiert zweifellos auf künstlerischen Wertigkeiten, ist aber auch ein Signal an die Regierung von Viktor Orbán, deren nationalistischer Populismus nicht zuletzt eine Hetzjagd auf Minderheiten wie die Roma befördert.

Ein Problemthema behandelt auch das kanadische Drama „Rebelle/War Witch“: Regisseur Kim Nguyen erzählt aus der Perspektive eines zwölfjährigen Mädchens, das aus seinem Dorf entführt und von Rebellentruppen zur Kindersoldatin ausgebildet wird. Ihm gelingt eine zwar gefühlsintensive, aber nie mitleidige Ballade auf verlorene Unschuld. Zusammengehalten wird die mit surrealen Episoden versetzte Geschichte von der jungen Hauptdarstellerin Rachel Mwanza, der die Jury den Silbernen Bären verliehen und die sich damit gegen Kapazunder wie Isabelle Huppert und Birgit Minichmayr durchgesetzt hat. Auch hier dürfte Mike Leigh den Ausschlag gegeben haben, dessen Filme stets auch von Laiendarstellern und damit vom Abrieb an einer außerfilmischen Wirklichkeit leben. Mwanza selbst musste sich jahrelang als Straßenkind in Kinshasa durchschlagen; ihre Körperhaltung und ihr Gesicht erzählen davon, lassen die junge Frau unmittelbar eintreten in die Erfahrungs- und Leidenswelt der Kindersoldatin.

Porträt einer Ärztin in der DDR


Und dann war da noch „Barbara“, das Porträt einer ostdeutschen Ärztin, die 1980 einen Ausreiseantrag stellt und dafür in ein Provinzkrankenhaus strafversetzt wird. Regisseur Christian Petzold schert in seinem subtilen Drama aus dem DDR-Einheitsgrau aus, zeigt den deutschen Osten als farbgesättigtes Erinnerungsland zwischen Sommertraum und Überwachungsschock. Völlig zu Recht würdigte ihn die Jury als besten Regisseur.
Der Wettbewerb der 62. Berlinale war der beste, seit Dieter Kosslick 2001 die Leitung des Festivals übernommen hat: Eine reife Selektion, angesiedelt im Graubereich zwischen Pop, Politik und Kunst, von der mehr bleiben wird, als die Summe seiner einzelnen Filme.

Die Preisträger

GOLDENER BÄR: "Cesare deve morire" (Cäsar muss sterben) von Paolo und Vittorio Taviani (Italien), Produzentin: Grazia Volpi SILBERNER BÄR, GROSSER PREIS DER JURY: "Csak a szel - Just the Wind" von Bence Fliegauf (Ungarn) SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE REGIE: Christian Petzold für "Barbara" (Deutschland) SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE DARSTELLERIN: Rachel Mwanza (Kongo) in "Rebelle" von Kim Nguyen SILBERNER BÄR FÜR DEN BESTEN DARSTELLER: Mikkel Boe Folsgaard (Dänemark) in "Die Königin und der Leibarzt" SILBERNER BÄR FÜR EINE HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG:Lutz Reitemeier für die Kamera von "Bai lu yuan" (China) SILBERNER BÄR FÜR DAS BESTE DREHBUCH: Nikolaj Arcel und Rasmus Heisterberg für "Die Königin und der Leibarzt" (Dänemark) SILBERNER BÄR / LOBENDE ERWÄHNUNG: "L'enfant d'en haut" von Ursual Meier (Schweiz) BESTER ERSTLINGSFILM: "Kauwboy" von Boudewijn Koole (Niederlande) ALFRED-BAUER-PREIS: "Tabu" von Miguel Gomes (Portugal) GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN KURZFILM: "Rafa" von Joao Salaviza (Portugal) SILBERNER BÄR FÜR KURZFILM: "Gurehto Rabitto" von Atsushi Wada (Japan)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2012)

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