Ransmayr: "Wir sind Teil dieses ungeheuren Theaters!"

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Ransmayr hat in "Atlas eines ängstlichen Mannes" Geschichten aus fünf Jahrzehnten gesammelt. Im Interview spricht er über geliebte Menschen, Rettungen und das ungeheure Staunen, wenn man nur den Blick hebt.

Die Presse: Wie viele Kilometer, wie viele Jahre hat Ihr Buch „Atlas eines ängstlichen Mannes“, das 70 Geschichten aus aller Welt erzählt, gebraucht?

Christoph Ransmayr: Kilometer habe ich nie gezählt, aber man muss manchmal tatsächlich einmal um die Welt fahren, um in eine einzige Geschichte einzutauchen, in das Leben eines einzigen Menschen. Einfacher ist die Frage nach der Zeit zu beantworten: Die Atlas-Episoden reichen bis in meine Kindheit zurück, also fünf Jahrzehnte. Bei einer der Geschichten spüre ich noch das Kratzen des Ministrantenkragens, als etwa eine Frau vor der Morgenmesse in die Sakristei kam und dem Pfarrer meines Heimatdorfs berichtete, wie der Gendarm ihren siebzehnjährigen Sohn erschossen hatte.

Haben Sie immer schon mitgeschrieben?

Nein, das Notieren hat sich allmählich ergeben. Ich habe mir meine Reisen anfangs ja als Berichterstatter, Reiseleiter oder als Chauffeur finanziert, durch Autoüberstellungen beispielsweise nach Syrien und Saudiarabien, und bin dann an manchen Zielorten länger geblieben. Dort habe ich auch begonnen, an ersten Büchern zu arbeiten. Der Roman „Die letzte Welt“ entstand in der Kvarner Bucht und auf der griechischen Halbinsel Mani. Als ich begann, Tagesereignisse in die Fantasie einfließen zu lassen, entstanden Hefte, Büchlein mit Stichworten, Erinnerungscodes, die mir über einen einzigen Namen oder eine bloße Zahl ganze Dramen wieder zurückbringen konnten.

Sind die 70 Geschichten tatsächlich wahr?

Sie sind wahr im Sinne von wahrhaftig. Keine ist bloß erfunden. 70 Episoden! Das sind, nebenbei gesagt, pro Lebensjahr ohnedies nur ein bis zwei.

Die Texte beginnen immer mit „Ich sah“. Ist diese Wendung prophetisch gemeint?

Ich wollte den „Atlas“ bereits als Folgeprojekt für „Die letzte Welt“ schreiben. „Ich sah“ wurde aber erst viel später zum Schlüssel für die Erzählweise. Da verbürgt sich ein Mensch, ich, für das Gesehene und Gehörte, nicht irgendeine auktoriale Person. Wer aber seine eigene Erfahrung als – wenn nicht ausschließliche, so doch wichtigste – Quelle benützt und, was er gesehen oder gehört hat, in Sprache verwandelt, der macht seine Erfahrung zur Geschichte. Etwas zur Sprache zu bringen, entspricht immer einer dramatischen Verwandlung, Wirklichkeit wird so zur Vision. „Geschichten“, heißt es ja in der Vorbemerkung zum Atlas, „ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt.“

Der Erzähler geht meist etwas auf Distanz. Hängt das mit der Objektivität eines Reporters zusammen?

Wenn ich erkennen will, welche Bedeutung ein Ereignis hat, ist es notwendig, ein paar Schritte zurückzugehen, Abstand zu gewinnen. Das kann auch sehr weit zurück, sehr weit hinaus führen: Am Ende hebt man den Blick und denkt über Galaxien nach. Beim „Ich sah“ schwingt das mit, aber der Satz ist vor allem eine Bürgschaft, schließlich ist von meiner Geschichte die Rede.

Zwei Geschichten sind sehr persönlich – jene über den Tod Ihres Vaters und die Kindheit Ihrer verstorbenen Lebensgefährtin. Sind diese beiden Texte für Sie zentral?

Meinen Vater habe ich geliebt. Johanna war 20 Jahre meine Lebensgefährtin, und nach unserer Trennung blieben wir noch weitere zehn Jahre, bis zu ihrem Tod, innig befreundet. Sie hat mir geholfen, mich auf den Weg zu machen, zu schreiben. Und meine Frau Judith hat mir später das Leben, für das ich mich entschieden habe, gerettet. Deshalb ist dieser Atlas diesen beiden Frauen gewidmet.

Woher haben Sie die Lust am Erzählen und Schauen? Wer hat die geweckt?

Die gab es schon vor meiner Alphabetisierung, wenn mir etwa eine Magd die Blütenpflanzen der Jahreszeit oder mein Vater Vogelstimmen benannt hat. Ein fantastisches Erlebnis war beispielsweise, seidenhaarige Raupen über die Handfläche kriechen zu lassen und zu wissen, dass diese Würmchen sich in fliegende Wesen verwandeln würden. Das war wie Zauberei. Ich dachte, wenn das möglich ist, dann ist eigentlich alles möglich. Auch für uns.

In einer Geschichte kommt das Wort „Atlas“ vor – ein Kind in Irland formt diese Figur aus Schnee. Sie zerrinnt am Ende. In einer anderen Geschichte schreiben Kalligrafen in Peking mit Wasser auf Steine Gedichte der Tang-Zeit. Ist das so passiert?

So etwas könnte und wollte ich gar nicht erfinden. Einen Schneemann in der Tiefkühltruhe vor der Vergänglichkeit zu bewahren oder mit Wasser Gedichte auf heiße Steine zu pinseln, und so selbst die großartigste Poesie sozusagen verdampfen zu sehen. Das hat ja bei aller Wehmut auch etwas sehr Besänftigendes, ja Tröstliches.

Das führt wieder zur Astronomie. Wie kamen Sie zu diesem Hobby?

Wie schon die Astronomen der Antike – indem ich den Kopf hob und mir sagte: Was ich sehe, muss mehr sein als bloße Kulisse einer klaren Nacht. Lange bevor ich mein erstes Fernrohr besaß, habe ich den Auf- und Untergang der Sternbilder, den scheinbaren Jahreslauf des Himmels, mit freiem Auge verfolgt. Wir sind doch Teil dieses ungeheuren Theaters! Erst, wer ohne jedes Instrument etwas davon ahnt, sollte seinen Blick mit einem Teleskop bewehren.

Ist dieser Blick für Sie auch schrecklich?

Das Konfrontiertsein mit der absoluten Grenze der sichtbaren Welt, mit dem Ende aller Worte und aller Sprache, mit einem Raum, in dem nur noch mathematische Formeln Beschreibungen ersetzen können, ist immer auch mit dem Schrecken über die Ungeheuerlichkeit jenes Rätsels verbunden, warum es – wie die Philosophen immer wieder gefragt haben – überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Es gibt wohl kein Bild in der Tiefe des Raumes, das nicht auch etwas Beklemmendes hat, etwas, das einen zwingt, weit, weit über die eigenen Grenzen, auch das eigene Leben hinauszudenken.

Ist das Streben nach Dauer für Sie ein Motiv, um zu dichten?

Meine Ewigkeit endet mit meinem Leben. Erwähnungen in Literaturgeschichten oder auf Ehrentafeln interessieren mich nicht – und selbst die wären, gemessen an astronomischen Zeiträumen, von höchster Flüchtigkeit. Ich lebe für und mit den Menschen, mit denen ich mir meine Zeit teilen darf. Das ist genug. Im Erzählen kann ich unter Umständen etwas Kostbares, Einzigartiges zumindest für eine Weile bewahren. Aber jede Geschichte hat einen Anfang und ein Ende, natürlich auch meine.

Lesung im Akademietheater

Diesen Mittwoch, den 24. Oktober, liest Christoph Ransmayr (*1954) um 20 Uhr aus „Atlas eines ängstlichen Mannes“. Das Buch erscheint im S. Fischer Verlag (464 Seiten, 25,70 Euro, auch als Hörbuch erhältlich).

Romane von Ransmayr: „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, „Die letzte Welt“, „Morbus Kitahara“, „Der fliegende Berg“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2012)

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