Die Angst der Großen vor dem Kinderbuch

Angst Grossen Kinderbuch
Angst Grossen Kinderbuch(c) Esslinger Verlag
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Der Trend zur Struwwelpeterei: Ohne schwarze Pädagogik, aber nicht weniger erziehungswütig werden heute viele Kinderbücher zurechtgestutzt. Bei diesen „Säuberungen“ geht es längst nicht mehr nur ums „Negerlein“.

Es gab eine Zeit, da durften in Kinderbüchern Menschenfresser vorkommen. Wenn „Zeraldas Riese“ in Tomi Ungerers gleichnamigem Klassiker Jagd auf kleine Kinder macht, sieht man Ärmchen aus seinem Sack ragen und eine Mutter in Ohnmacht fallen. Damals, in den 1970er-Jahren, durfte auch ein Jäger in einem Kinderbuch küssende Hasen totschießen, oder ein Hase den Jäger. Nicht dass diese Janosch-Bilder nun verboten sind. Es fragt sich nur, ob sie heute noch so veröffentlicht werden könnten. In neuen Kinderbüchern finden sich solch „drastische“ Elemente jedenfalls nicht mehr.

Ebenso wenig wie das „Negerlein“. „Zensur!“, protestierten einige, als Anfang dieses Jahres der Thienemann Verlag bekannt gab, dass die „Negerlein“ aus Otfried Preußlers Klassiker „Die kleine Hexe“ getilgt werden. Ein später Nachzügler: Längst ist in „Pippi Langstrumpf“ der „Negerkönig“ durch den „Südseekönig“ ersetzt und der „Neger“ aus Michael Endes „Traumfresserchen“ verschwunden.

Türken müssen gehen, Eskimos bleiben?

Darf ein als rassistisch empfundener Begriff getilgt werden, um niemanden zu verletzen und Kindern keine schädlichen Vorstellungen zu vermitteln? Oder soll die „Kleine Hexe“ ihre authentische Form und damit ihre Geschichte bewahren dürfen – nicht zuletzt, damit Eltern darüber mit ihren Kindern diskutieren können?

Die Entscheidung des Verlegers hat in diesem Fall einiges für sich. „Aber die beiden Negerlein waren nicht vom Zirkus und ebenso wenig die Türken und Indianer“, heißt die betreffende Passage. „Auch die kleinen Chinesinnen und der Menschenfresser, die Eskimofrauen, der Wüstenscheich und der Hottentottenhäuptling stammten nicht aus der Schaubude. Nein, es war Fastnacht im Dorf!“ Das erinnert an eine Zeit, in der Menschengruppen den Europäern als Kuriositäten ausgestellt wurden. Mit den „Negerlein“ sollen nun auch die „Chinesen“ und „Türken“ weg.

Die Umerziehung von Enid Blyton

Solche Eingriffe sind immer eine Gratwanderung (wann werden Inuit und Indianer kommen, um gegen ihre Diskriminierung zu protestieren?) – was nicht per se gegen sie spricht. Die Grenze der Er- bzw. Zuträglichkeit muss eben jede Zeit und Gesellschaft neu für sich ziehen. Aber auf die Entfernung des Wortes „Neger“ können sich heute die meisten einigen. – Doch die Kinderbuch-Polizisten haben es, vor allem im englischsprachigen Raum, schon auf viel mehr abgesehen als auf die Tilgung tief kränkender diskriminierender Ausdrücke. Aus England, den USA und Kanada droht eine Entwicklung in den deutschsprachigen Raum herüberzuschwappen, die sich unter anderem an jüngeren Enid-Blyton-Ausgaben zeigt.

In ihnen werden die „Fünf Freunde“ nachträglich umerzogen. Sie habe versprochen, ihrer Tante beim Marmeladekochen zu helfen, sagt Anne an einer Stelle, also gehen die Buben ohne sie los. Viele Kinder kriegen das heute so nicht mehr zu lesen. Stattdessen teilen sich Julian und Anne, George und Dick in allen Szenen redlich die Hausarbeit.

Auch die deutschen Übersetzungen haben bereits mit der „Modernisierung“ begonnen. Da wurde etwa alles, was mit schwarzer Pädagogik zu tun hat, getilgt – es gibt keine Ohrfeigen mehr, keine Prügel.

Hier feiert das Kinderbuch als pädagogische Anstalt wieder fröhliche Urständ. Aus ihr wird alles verbannt, was nur ein Quäntchen vom herrschenden Weltbild abweichen könnte. In ihr wird alles verdächtig, was nur irgendwie Kindergemüter irritieren, ihnen „falsche Begriffe“ in den Kopf setzen oder vielleicht ihre Gesundheit gefährden könnte. Ein Verlag habe ihr verboten, ein allein auf der Straße gehendes Kind vorkommen zu lassen, erzählte vor einigen Jahren die Kinderbuchautorin Lindsey Gardiner in einem Interview – ebenso wie einen Drachen, der Feuer spuckt und drauf Mäusespeck brät.

Erwachsene ignorieren Kinderblick

Dass die Political Correctness in England, den USA oder Kanada auch bei Kinder- und Schulbüchern die bizarrsten Blüten treibt, ist ohnehin längst bekannt. Da entfernt eine englische Schule in vorauseilendem Gehorsam das Kinderbuch „Charlotte's Web“ aus ihrem Haus, nur weil ein Schwein als Hauptfigur Muslime verärgern könnte (was selbst dem Muslim Council of Britain zu weit ging); oder eine Vereinigung der Holzarbeiter will das Kinderbuch „Maxine's Tree“ aus Büchereien zu verbannen, weil Maxine angesichts eines Kahlschlags auf Vancouver Island um ihren Lieblingsbaum fürchtet.

Aber nicht nur hier hat es den Anschein, dass es bei der Kinderbuch-„Zensur“ weniger um die Kinder als vielmehr um die Erwachsenen geht. Sie sehen etwas „Anstößiges“ in Darstellungen, das Kinder gar nicht so wahrnehmen, weil sie die Welt ganz anders sehen: wie das Kind, das vor dem Bild eines Nackten auf einem Aufklärungsbuch für Kinder nicht etwa rief: „Mama, da ist ein Nackerter!“, sondern: „Mama, der Mann hat einen Apfel im Körper!“.

Furcht vor Kontrollverlust

So brav und anwendungsorientiert wie heute waren deutschsprachige Kinderbücher schon lange nicht mehr. Dabei zeigt die Erinnerung an kindliche Lektüreerlebnisse, dass es gerade die verrücktesten, „abwegigsten“ Geschichten sind, die am tiefsten Wurzeln schlagen und die Persönlichkeit bereichern. Selbst der Struwwelpeter bleibt ein herrliches Buch für Kinder, auch wenn die Vorstellung abgeschnittener Daumen und lichterloh brennender Mädchen schrecklich ist. Kinder lieben, was ihre Fantasie zum Sprühen bringt, egal, wie abwegig es ist – und sie vertragen dabei sehr viel. Vorausgesetzt, ihre Welt außerhalb der Bücher ist insgesamt im Lot. Und hier liegt wohl das eigentliche Problem: Vielleicht wollen Erwachsene angesichts unsicherer Zukunftsaussichten, labiler Familienverhältnisse und Gewaltexzessen von Teenagern einfach das Gefühl haben, wenigstens irgendetwas zu kontrollieren. Eine Gesellschaft, die Kinderbücher zensiert, misstraut wohl nicht den Kinderbüchern, sondern sich selbst.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2013)

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