Comic: In der heiteren Strafkolonie

Comic heiteren Strafkolonie
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Piraten gegen Henker: "Die Insel der 100.000 Toten" von Zeichnerstar Jason und Fabian Vehlmann ist ein vergnügliches Abenteuer mit erstaunlichem Tiefgang.

Es ist ein finsterer Tag für Zögling Tobias, das schwarze Schaf in der Henkerschule. Wohl nicht der erste. Der Bub ist halt zu verträumt. Eben erst musste er nach einer kleinen Unachtsamkeit beim Trainieren des traditionellen Kopfabhackens gleich selbst zum Schularzt. Dann treibt er seinen Unterweiser im altehrwürdigen Fach des Scheiterhaufenstapelns zur Verzweiflung. Statt die Holzbretter ordnungsgemäß zu arrangieren, baut Tobias eine Miniblockhütte: „Ich dachte, so sieht es netter aus.“ Der Henkermeister ist ratlos: „Was sollen wir nur mit Ihnen machen?“

Überhaupt ist es eine Zeit des irritierenden Umbruchs im Gewerbe. Die Entwicklungsabteilung der Henkerschule stellt eine Kanone vor, die viele Menschen zugleich in die Luft schießen soll. „Ich weiß nicht so recht“, sinniert der Direktor melancholisch: „Wenn man tötet wie am Fließband, welche Würde hat unsere Profession dann noch?“

Diese Mischung aus wehmütigem Existenzialismus und makabrem Witz ist typisch für den norwegischen Comiczeichner John Arne Sæterøy, der unter seinem Künstlernamen Jason in der letzten Dekade ein Star der Szene geworden ist. Sein unverwechselbarer Stil kombiniert die visuelle Einfachheit der europäischen Tradition der klaren Linie mit einer amerikanisch anmutenden Obsession für Popkultur, serviert mit einem schwarzen Pokerface-Humor, der dann doch heimatlich skandinavisch wirkt. Eine international durchschlagende Kombination: Mehrfach hat Jason den renommierten Eisner-Award erhalten, zuletzt für seinen Band „Ich habe Adolf Hitler getötet“, eine Auftragskillergeschichte der etwas anderen Art.

Flaschenpost mit Schatzkarte: Eine Falle!

Nun serviert Jason ein Piratenabenteuer der anderen Art: „Die Insel der 100.000 Toten“ ist seine erste – und gleich kongeniale – Zusammenarbeit mit dem französischen Comicautor Fabien Vehlmann. Der schreibt seit einigen Jahren „Spirou und Fantasio“, neben „Asterix“ und „Tim und Struppi“ einer der großen Klassiker der humoristischen frankobelgischen Abenteuer-Comics.

Auch der neue Comic hat eine klassische Ausgangsbasis in Abenteuerliteratur à la Robert Louis Stevenson, die dann bald ins Absurde gewendet wird. Die junge Gweny sucht ihren verschwundenen Vater, der einer Flaschenpost mit der Karte zum Schatz der Insel der 100.000 Toten folgte. Als die Tochter auch so eine Flasche findet, engagiert sie in der nächsten Spelunke ein paar habgierige Piraten für die Schatzsuche. Doch das Ganze ist natürlich eine Falle: Denn die Insel der 100.000 Toten beherbergt die Henkerschule. Mit Schatzkarten in der Flaschenpost werden vorsorglich Piraten angelockt: Man braucht schließlich steten Nachschub, um den Internatszöglingen ordentliches Foltern und Henken beizubringen. Als Gweny und die Piraten kommen, ist noch dazu gerade Prüfungszeit: Selbst Seeräuber lernen da schnell das Fürchten.

Man kann in dieser Graphic Novel sogar eine politische Allegorie auf die Gegenwart sehen: Bleibt der Jugend nur noch die Wahl zwischen Henkern und Piraten? (So viel sei verraten: Es gibt einen Ausweg – aber, typisch für Jason, in die Ungewissheit.) Der schmale Band hat überhaupt einen merkwürdigen Reichtum, dabei wirkt er mit seinen minimalistischen Zeichnungen und lakonischen Pointen ganz unprätentiös unterhaltsam. Jason verknappt große Handlungsblöcke auf wenige Paneels, was kleinsten Effekten großen Wirkung verleiht. Charakteristisch ist auch, dass er die Figuren als anthropomorphe Tiere anlegt: Eigentlich witzige Gestalten, zugleich unheimlich, weil ihre Augen ohne Pupillen gezeichnet sind. Die leeren Blicke verströmen noch in abstrusesten Situationen existenziellen Gleichmut.

Diese elegante Knappheit eint auch den wilden Mix an Genres: Abenteuergeschichte und Familiensaga, Romanze und Entwicklungsroman, unterfüttert mit geradezu kafkaeskem Unbehagen. Bei allen liebevoll parodistischen Pointen rund um die Henkerschule ist sie doch wie Kafkas Strafkolonie: ein schreckliches System, das bürokratisch funktioniert, aber längst sinnlos geworden ist. Ob jemand schuldig ist? Egal!

„Wo liegt der Zauber einer Hinrichtung?“

Der Direktor ergeht sich daher in (von Untergebenen gefürchteten) nostalgischen Abschweifungen: „Unser Metier kann ein wenig Träumerei vertragen. Worin liegt denn der Zauber einer Hinrichtung, wenn es keine Überraschungen mehr gibt?“ Jason und Fehlmann überraschen dafür mit dem Kunststück, im leichten Ton eines Jugendbuchs zielsicher abgründige Momente anzusteuern. Noch der eigentlich exzessive Showdown wird beiläufig serviert: Schrecken, schmähstad. Ein Genuss für alteingesessene Freunde des Makabren und solche, die junge Menschen dazu machen wollen.

„Die Insel der 100.000 Toten“: erschienen bei Reprodukt. 56 Seiten, 15 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2013)

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