Nobelpreis für Alice Munro, Meisterin der kurzen Form

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Die kanadische Autorin Alice Munro zählte schon lange zu den heimlichen Favoriten für die hohe Auszeichnung in Stockholm. Ihre Short Storys sind dicht und subtil.

Der Nobelpreis für Literatur geht an Alice Munro, wie die Schwedische Akademie am Donnerstag bekannt gab. Die Entscheidung für die 82-jährige Autorin aus Kanada (die 13. Frau seit der ersten Verleihung 1901) ist goldrichtig. Mit der Auszeichnung (sie ist umgerechnet circa 910.000 Euro wert) wird eine meisterhafte Erzählerin gewürdigt und zugleich die zauberhafte Kunstform der Short Story, eine Stärke der von Stockholm seit Jahren vernachlässigten angelsächsischen Tradition. Munro, die erstmals 1950 publizierte und seither mehr als hundert Geschichten in 14 Bänden geschrieben hat, versteht es wie nur die ganz Großen, Texte zu komprimieren. Sie kann auf wenigen Dutzend Seiten vermitteln, wofür manch überschätzter Großschriftsteller ein Vielfaches braucht. Im bisher veröffentlichten Werk gibt es einen Episodenroman: „Lives of Girls and Women“ (1971). Die kurze, offene Form aber dominiert bei ihr zu Recht. Zuletzt erschien 2012 der Band „Dear Life“.

Munros Prosa, die schon mit vielen renommierten Preisen bedacht wurde, erinnert an die von Anton Tschechow. Sie schafft eine Seelenlandschaft, die realer wirkt als die Wirklichkeit, so wie das auch bei William Faulkners Yoknapatawpha County oder Thomas Hardys Wessex ist. Bei Munro ist der Mythos im Südwesten der kanadischen Provinz Ontario angesiedelt, auf dem Landstreifen zwischen Erie-, Huron- und Ontariosee.

Schottische Ahnen, strenge Siedler

Dort wurde die Autorin am 10. Juli 1931 als Alice Ann Laidlaw geboren, ihre Eltern hatten in Wingham eine Fuchsfarm. Die Vorfahren waren schottische Presbyterianer, die Anfang des 19. Jahrhunderts emigriert waren. Einer der Ahnen war mit dem Dichter Robert Burns befreundet. Die Suche nach diesen Wurzeln kann man in den Erzählungen von „The View from Castle Rock“ (2006) nachlesen. Die andere Linie besteht aus Anglikanern. Fromme Leute besiedelten diese schöne neue Welt, streng zu sich und der Gemeinschaft, oft auch abgründig.

Davon hat Mrs. Munro offenbar kreativ profitiert. Sie erzeugt Innerlichkeit mühelos, ihre Charaktere, meist Frauen, erleiden Tragödien oder sind an einem Wendepunkt angelangt. Diese Situationen bringt die Autorin auf den Punkt, sie erklärt nicht, sondern zeigt, was mit den Menschen passiert. Ihre Präzision und der makellose Stil sind beneidenswert. Die nicht minder talentierte kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood beschreibt das Können der Kollegin im Vorwort zu Munros „Carried Away“ (einer Auswahl von Storys aus drei Jahrzehnten) so: Unter Schriftstellern rede man über sie mit gesenkter Stimme, man verwende ihren Namen zur Züchtigung von Feinden: „You call this writing?“ the floggers say, in effect. „Alice Munro! Now that's writing!“ Und Atwood empfiehlt voll Empathie: Egal, wie bekannt Munro schon sei, sie sollte noch viel bekannter sein.

Die neue Nobelpreisträgerin wird tatsächlich immer wieder entdeckt, auch ihre Texte bergen, so wie nur die beste Literatur, immer wieder etwas Neues. Beim Lesen von Munro lernt man, wie man Munro liest. Ihren ersten Erfolg hatte sie relativ spät, Ende der Sechzigerjahre mit „Dance of the Happy Shades“. Zuvor hatte sie Journalismus studiert, die Ausbildung an der University of Western Ontario aber aus Geldmangel abgebrochen, geheiratet, vier Töchter geboren, sich scheiden lassen, noch einmal geheiratet. Immer aber hat sie geschrieben. Schon mit neun Jahren wollte sie Schriftstellerin werden. Da bereiteten ihre Eltern sie fast schon darauf vor, dass sie später einmal die Frau eines Bauern werden sollte.

Kindheitserinnerungen einer Tochter

Wer Familiäres erfahren möchte, dem ist ein Buch ihrer Tochter Sheila zu empfehlen: „Lives of Mothers and Daughters: Growing up with Alice Munro“ sind Kindheitserinnerungen. „So much of what I think I know – and I think I know more about my mother's life than almost any daughter could know – is refracted through the prism of her writing. Such is the power of her fiction that sometimes it even feels as though I'm living inside an Alice Munro story”, schreibt das Kind.

Diese Mutter beherrscht tatsächlich Unheimliches. Sie kann den Menschen ins Herz schauen und das auch noch vollendet formulieren. Wie aber hält sie es denn mit der Dichtung, wie schwer war es für eine Frau aus der Provinz vor mehr als 60 Jahren, diesen Beruf zu ergreifen, die Literatur zu wählen? Eine Ahnung davon kann man aus der Erzählung „Meneseteung“ im Band „Friend of My Youth“ herauslesen, aus dem Schicksal der fiktiven Almeda Roth, die nur einen Gedichtband veröffentlichte. Sie gleitet ins Fantastische ab, ins Irre gar, man kann sie sich in diesem Zwang trotzdem als glücklich denken: „Poems, even. Yes again, poems. Or, one poem. Isn't that the idea – one very great poem that will contain everything...“ Munros Texte haben etwas von dieser Unbedingtheit. Ihre Storys sind Fenster, die den Blick öffnen für Wahn und Wunder dieser Welt.

Nachricht auf dem Anrufbeantworter

Vom Nobelpreis hat die Ausgezeichnete übrigens indirekt erfahren. Eine Tochter musste sie wecken, weil die längst zu den Favoriten zählende Mutter den Termin vergessen hatte. So teilte Stockholm per Twitter Folgendes mit: „Die Schwedische Akademie konnte Alice Munro nicht erreichen, sie hat eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.“ Munro hätte das kürzer formuliert.

DIE PREISTRÄGERINNEN BISHER

Alice Munro ist erst die 13. Frau, die mit einem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird. 1909 war die Schwedin Selma Lagerlöf die erste. Die weiteren Preisträgerinnen: Grazia Deledda (I/1926), Sigrid Undset (N/1928), Pearl S. Buck (USA/1938), Gabriela Mistral (CHL/1945), Nelly Sachs (SWE/1966, gemeinsam mit Samuel Agnon), Nadine Gordimer (ZAF/1991), Toni Morrison (USA/1993) Wislawa Szymborska (PL/1996), Elfriede Jelinek (A/2004), Doris Lessing (GB/2007) und Herta Müller (D/RO/2009).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2013)

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