Die traurige Welt des Theo Decker

Donna Tartt
Donna Tartt Beowulf Sheehan/Goldmann Verlag
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Mit "Der Distelfink" ist der US-Autorin Donna Tartt ein ganz großer Wurf gelungen: eine sprachlich hinreißende Tour de Force zwischen Post-9/11-Amerika und modernem Charles Dickens.

Wer keinen Hang zu Superlativen hat, ist als Rezensent möglicherweise ungeeignet. Denn der tut sich schwer, bereits im März ein Buch als „die definitive Neuerscheinung des Jahres“ zu loben (es könnte ja noch ein besseres kommen). Aber selbst der schüchternste Kritiker darf angesichts von Donna Tartts neuem Roman ruhig über seinen zaudernden Schatten springen. Denn mit „Der Distelfink“ ist der US-Autorin ein ganz großer Wurf gelungen: ein Parforce-Ritt der Erzählkunst, ganz in der Tradition der großen amerikanischen Autoren, mit einem guten Schuss modernen Charles Dickens'. Es ist mit Sicherheit ein Buch, das man in diesem Jahr gelesen haben sollte. Auch wenn erst März ist.

Donna Tartt (48) lässt sich beim Schreiben Zeit. Nach ihrem ersten Roman, dem mittlerweile als modernem Klassiker geltenden Psychothriller „Die geheime Geschichte“ (1992), dauerte es zehn Jahre, bis der etwas weniger erfolgreiche Roman „Der kleine Freund“ erschien. Nach weiteren zehn Jahren schlüpfte dann „Der Distelfink“ auf 1022 Seiten – von denen es jede wert ist, gelesen zu werden, viele Passagen auch zweimal. Nicht zuletzt deshalb, weil die beiden Übersetzer Rainer Schmidt und Kristian Lutze eine wahrlich meisterhafte „Übertragung“ hingelegt haben, die jeden von Donna Tartts schwierigen Zwischentönen trifft.


Alles fliegt in die Luft. Seinen Titel entlehnt der Roman dem gleichnamigen Gemälde des niederländischen Malers Carel Fabritius. Den „Distelfinken“ malte Fabritius im Jahr 1654, demselben Jahr, in dem er bei der Explosion der Delfter Pulvermühle starb. Dass auch Tartts Roman mit einer gewaltigen Detonation beginnt, ist kein Zufall, sondern einer von vielen Fäden, die die Autorin zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart spannt. Bei ihr ist es ein Terroranschlag im New Yorker Metropolitan Museum of Art. Dabei stirbt die Mutter des 13-jährigen Theo Decker, die gemeinsam mit ihrem Sohn vor einem Regenschauer ins Trockene geflüchtet war.

Im Chaos von Trümmern und Leichen werden die Weichen für Theos Leben gestellt: Auch er geht zu Bruch, und zwar unwiderruflich; er trifft das Mädchen Pippa, das er sein ganzes Leben lang lieben wird; steckt auf Anweisung eines Sterbenden den „Distelfinken“ in die Tasche, jenes Gemälde, das jahrelang sein Handeln bestimmen wird, und erhält die Anweisung, einen Mann namens James Hobart zu kontaktieren, einen Antiquitätenhändler, der ihm ein zweiter Vater wird. Fast zumindest, und vor allem deshalb, weil auch Hobart eine Schuld abzutragen hat.

Bitte nicht, Theo! Das sind die grundlegenden Elemente, aus denen Donna Tartt einen spannenden und wortgewaltigen Entwicklungsroman rund um Theo Decker baut: Theo, der der modernen Park-Avenue-Version eines Charles-Dickens-Helden gleicht, ein Teil Pip aus „Große Erwartungen“, ein Teil Oliver Twist; allein gelassen, gleichzeitig ausgenutzt, betrogen und doch immer wieder auch gerettet; umgeben von falschen Freunden, die manchmal genau die richtigen sind, wie Theos wahnwitziger ukrainischer Blutsbruder Boris; Theo, getrieben von dem Gefühl der Wertlosigkeit, das ihn umhüllt wie ein Gifthauch; Theo, der mit 15 schon mehr Drogen genommen hat als andere in ihrem ganzen Leben zu sehen bekommen; Theo, der das Herz des Lesers rührt, seinen Verstand aber verzweifeln lässt: „Bitte, Theo“, denkt man oft, „bitte, tu das nicht!“

Doch es wäre nicht die gelassen außerhalb jeder Konvention stehende Donna Tartt, wenn sie aus Theos Lebensgeschichte einen moralisierenden Schluss zöge. Im letzten Abschnitt des Buches, in dem nur Theo zu Wort kommt und in dem fast jeder Satz mit einem Fragezeichen endet, geht es in Wahrheit nur um eines: Wenn man, um glücklich zu werden, seinem Herzen folgen soll (wie einem alle raten), was tut man, wenn dieses Herz einen „kopfüber ins heilige Wüten führt“, immer nur in die Verderbnis? Dieses „Herz, für das man nichts kann“? Tröstet man sich damit, dass das Gute mitunter aus bösen Taten entsteht? Es ist ein Ende, das alles andere als happy ist. Erstaunlich ist nur, dass es sich dennoch nicht ganz schlecht anfühlt.

Neu Erschienen

Donna Tartt
„Der Distelfink“

Ins Deutsche übertragen von
Kristian Lutze und Rainer Schmidt

Goldmann Verlag
1024 Seiten
25,40 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2014)

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