Wer wagt es, Thomas Mann zu verbessern?

BUCH. Peinlicher Abschreibefehler: 1266 Seiten zum „Doktor Faustus“ enthüllen mehr, als dessen Autor wohl lieb wäre.

Dim – dada! Bitte zu hören, wie hier – die Melodie vom Fugengewicht – der Akkorde überwogen wird! Sie wird statisch, sie wird monoton – zweimal d, dreimal d hintereinander – die Akkorde machen es – Dim – dada!“

Wenn Wendell Kretzschmar in Thomas Manns „Doktor Faustus“ so seine Kommentare in Beethovens Sonate opus 111 hineinstottert, haben sich wohl schon viele Leser ein Beispiel an den gebannten, aber verwirrten Zuhörern dieses manischen Musikermännchens genommen: „Er fragte nicht, ob wir das verstünden, und auch wir fragten uns nicht danach“ ...

Einige, gerade Musikexperten, haben sich aber sehr wohl etwas dabei gefragt, und zwar: Verstand denn Thomas Mann selbst, was er da schrieb?

Heute weiß man: Nein. Das „Fugengewicht der Akkorde“ ist purer Unsinn, Thomas Mann hat schlicht und einfach falsch abgeschrieben. Und zwar von seinem musiktheoretischen Berater, dem Philosophen Theodor W. Adorno, der eine schwer zu lesende, kleine Schrift hatte. In einer handschriftlichen Bemerkung zu jener Sonate betont er – nicht das Fugen-, sondern das „Eigengewicht der Akkorde“ ...

Eine Spur zu ehrgeizig?

Auch ein großer Mann macht kleine Fehler, das zeigt der jüngst erschienene 1266-Seiten-Kommentar zum „Doktor Faustus“. Seit fünf Jahren entsteht bei S. Fischer die monumentale „Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe“ (GFKA) des Gesamtwerks, von den großen Romanen liegen schon „Buddenbrooks“ und „Der Zauberberg“ vor, und wenn alles gut geht, werden 2015 alle 38 Bände gedruckt sein. Ein halbes Forschungsjahrhundert steckt in ihnen, noch nie konnten passionierte Mann-Leser den Schriftsteller so genau kennenlernen.

An manchen Stellen genauer, als es dem recht eitlen Meister lieb gewesen wäre. Als er im Exil in Kalifornien 1942 die Arbeit an einer modernen Version des Faust-Stoffs begann, wusste er, dass dieses Unternehmen an die Grenzen des (von ihm) Machbaren ging. Ein Künstler- und Bekenntnisroman sollte es werden, zugleich eine Parabel auf das Schicksal des von Hitler verführten Deutschland – und ein Roman über die Musik – eine ganz neue Musik.

Das Problem dabei: Manns Geschmack reichte nicht über seine Lieblinge Richard Wagner und Richard Strauss hinaus. Die kleine Kuriosität des „Fugengewichts“ zeigt, dass sich der bald Siebzigjährige doch ein bisschen übernommen hat, als er seinem Helden Adrian Leverkühn eine an Schönbergs Zwölftonmusik angelehnte Musik der Zukunft auf den Leib schrieb.

Kurioserweise, auch das weiß man mittlerweile, war Mann sogar gewarnt worden, noch bevor das Werk in Druck ging. Der Musikwissenschaftler Alfred Einstein (ein Cousin sechsten Grades von Albert Einstein) lobte in einem Brief vom 14.November 1946 zwar überschwänglich das Kretzschmar-Kapitel (er hatte es in einem Vorabdruck in der „Neuen Rundschau“ gelesen), stieß sich aber am „Fugengewicht“. Mehr noch, er bot Mann sogar seine fachliche Hilfe für Musikbeschreibungen an.

„Wir wollten dem Autor Gutes tun“

War Mann beleidigt? Wollte er Adorno nicht vor den Kopf stoßen, indem er mit einem anderen Berater „fremdging“? Vertraute er Adornos Kenntnissen – und seinen eigenen Lesefähigkeiten so sehr? Faktum ist – er reagierte nicht, und die Stelle blieb, wie sie war. Trotzdem steht in der Neuausgabe nun zum allerersten Mal „Eigengewicht“. Und der deutsche Germanist und Herausgeber der neuen Werkausgabe Ruprecht Wimmer bekennt sich im Gespräch mit der „Presse“ auch freimütig zu dieser (im Kommentarband erklärten) Eigenmächtigkeit: „Wir wollten Thomas Mann was Gutes tun.“

Dafür werden sich weiterhin die aufmerksamsten Leser darüber wundern, warum der Erzähler über Adrian Leverkühn sagt: „Es war wieder Wagner, von dem er sprach.“ Warum bloß „wieder“ – er hatte doch davor gar nicht von Wagner gesprochen...

Des Rätsels Lösung bietet auch hier der Kommentar: Kaum waren 1947 die ersten Romanexemplare den Druckmaschinen entschlüpft, erfährt man, da fürchtete Thomas Mann, seine musiktheoretischen Ausschweifungen könnten den Lesern zu schwer im Magen liegen. Gemeinsam mit Tochter Erika setzte er daher den Rotstift an. Das Ergebnis waren aber nicht nur 25 Druckseiten weniger, sondern auch ein paar „blinde Verweise“ mehr.

Sekretärin als „Fehlerquelle“

Sie wurden nicht bemerkt, als ein Jahr nach dem Erstdruck die zweite, „Wiener Ausgabe“ erschien (der Fischer Verlag hatte damals einen Teil seines Hauses nach Österreich ausgelagert) – sie dient als Grundlage der neuen Frankfurter Ausgabe.

Auch die damals im Hause Mann neue Sekretärin Hilde Kahn war eine „Fehlerquelle“: Sie konnte vor allem in den ersten Kapiteln die Handschrift des Autors nicht gut entziffern, machte im Zweifelsfall aus ungebräuchlichen Worten gebräuchlichere (zum Beispiel „nachblicken“ aus „nachblinzeln“), einmal ließ sie versehentlich sogar eine ganze Zeile aus. Und schließlich haben auch die Schweizer Setzer ihre inhaltliche Duftmarke hinterlassen. Sie machten z.B. aus einem „aufklarenden“ einen „aufklärenden“ Himmel, aus einer „Fahrtstunde“ eine „Fahrstunde“. Und da Thomas Mann die Fehler bei der Korrektur übersah, blieben sie auch in allen bisherigen Ausgaben erhalten. An „über hundert Stellen“, gibt der Lektor der neuen Ausgabe, Stephan Starchorski, an, hätten sie Thomas Mann nun „verbessert“.

Die interessantesten Veränderungen freilich, die der Romantext erfahren hat, bleiben jene, die der Autor selbst während des Schreibens vorgenommen hat. Wie brisant schon winzige Ergänzungen sein können, zeigt etwa eine Aussage im zweiten Romankapitel: Da bekennt der fiktive Erzähler Serenus Zeitblom, dass er „gerade in der Judenfrage und ihrer Behandlung unserem Führer und seinen Paladinen niemals voll habe zustimmen können“.

„Gerade in der Judenfrage...“

Von Anfang an wurde diese ziemlich schwächelnde Ablehnung des NS-Regimes viel diskutiert. Und siehe da – die Handschrift enthüllt, dass Thomas Mann die Wörter „gerade“ und „voll“ erst später einfügte, ursprünglich hieß es also, dass er „in der Judenfrage (...) niemals zustimmen habe können“. „Das zeigt sehr deutlich, dass Thomas Mann mit seiner Erzählerfigur Schwierigkeiten hatte“, erklärt Wimmer. „Dieser Serenus Zeitblom ist sicher nicht ein Parteigänger Hitlers, aber er ist einer, der am deutschen Erbe trägt.“

Zwei berühmte Menschen waren ziemlich böse, als der „Doktor Faustus“ erschien: Adorno, weil Mann seine Hilfe mit keinem Wort erwähnt hatte, und Arnold Schönberg, der ihm unter dem Pseudonym „Hugo Triebsamen“ vorwarf, seine Zwölftonmethode gestohlen zu haben. Letzteren stellte Mann mit einem Nachsatz zufrieden, allerdings erst in der dritten Ausgabe (im neuen Frankfurter „Doktor Faustus“ sucht man sie daher vergeblich). Adorno besänftigte er mit seiner „Entstehungsgeschichte des Doktor Faustus“ (1949). „Aber etliche Quellen verschweigt er darin“, erzählt Wimmer, „die Erinnerungen Strawinskys etwa hat er bis ins Detail ausgebeutet.“ Auch von Adornos Entwurfstexten erfahre man nichts, sagt Wimmer, dabei habe Mann sie sehr genau übernommen, erstaunlich wenig geändert. – So berühmt er zu Lebzeiten war: Dass man ihm einmal so genau in die Karten schauen würde, hätte er sich wohl auch nicht gedacht.

NEUEDITION: „Doktor Faustus“

Seinen „Parsifal“ nannteThomas Mann „Doktor Faustus“ (1947), der auch als Parabel auf Hitler-Deutschland zu lesen ist. Kaum ein deutscher Roman wurde nach Erscheinen so intensiv diskutiert.

Um 86,40 Euro ist der über 2000 Seiten umfassende Schuber mit „Doktor Faustus“ und Kommentarband zu haben, alle 38 Bände (inkl. Briefauswahl und Tagebüchern) sollen 2015 fertig sein und mindestens 1400 Euro kosten. Es ist die erste umfassend kommentierte Gesamtausgabe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.