Nöstlinger: "Habe auf spießige Eltern nie Rücksicht genommen"

Christine Nöstlinger
Christine Nöstlinger(c) dpa/APA/Frank Leonhardt
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Christine Nöstlinger wird demnächst 80 Jahre alt. Der "Presse am Sonntag" erzählte sie, wie sie sich ihr inneres Kind bewahrt hat, warum Kinderbuchhelden nicht zu schlimm sein dürfen und warum sie die Hoffnung aufgegeben hat, den "langen Winter" des Nationalismus noch zu überleben.

Sie haben einst zu schreiben begonnen, um dem Hausfrauendasein zu entkommen. Wären Sie in der heutigen Zeit eine junge Mutter, würden Sie dann überhaupt schreiben?

Christine Nöstlinger: Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich es heute wesentlich schwerer hätte als damals.

Wieso das?

Weil ich in Zeiten zu schreiben begann, als es viel Aufsehen um fortschrittliche Kinderliteratur gab. Ich hab von der Leber weg frei geschrieben, ich habe getan, was ich wollte, ohne auf Pädagogen oder Lehrer oder spießige Eltern Rücksicht zu nehmen. Da haben sich dann furchtbar viele Menschen aufgeregt und waren empört, aber ebenso viele waren fasziniert und begeistert. Das war im Gespräch. Aber heute schert sich doch niemand um Kinderbücher. Man überlegt ja gar nicht mehr wie damals: Was sollen Kinder lesen? Ein Kinderbuch ist heute ein gutes Kinderbuch, wenn es gut verkauft wird. Aus, Schluss, basta.

Gut verkauft wird doch, was Kinder gern lesen. Ist das nicht in Ihrem Sinn?

Nicht alles, was man gern liest, ist in meinem Sinn. Ich finde den Standpunkt schlecht: Hauptsache, die Kinder lesen überhaupt. Es kommt schon darauf an, was man liest.

So politisch ist die Kinderbuchszene jedenfalls nicht mehr.

Es erscheinen heutzutage auch ganz selten Kinderbuchkritiken in den Medien. Zu der Zeit, in der ich zu schreiben begann, gab es überhaupt keine Kritik an Kinderbüchern, sondern Gutachten. Es gab schon damals einen Kinderbuchpreis des Staates, und da wurden Gutachten verfasst, hauptsächlich von Bibliothekaren und Lehrern. So wurden die Bücher beurteilt, die preiswürdig waren. Ich habe einmal ein kleines Buch geschrieben, „Die Kinder aus dem Kinderkeller“, da kommt ein Papa vor, der ist Fleischhauer und trinkt zu jedem Gabelfrühstück ein Seidl Bier und isst ein paar Würschtel. Im Gutachten stand nix anderes als: Dieses Buch ist abzulehnen, weil – und dann waren alle Seiten angeführt, auf denen der Fleischhauer ein Bier trinkt – Bier getrunken wird. Das beste Gutachten, das ich je gelesen habe, kam vom Direktor der großen Bibliothek der Gemeinde Wien. Der hat über ein Osterhasen-Bilderbuch geschrieben: „Ich glaube nicht, dass Osterhasen wirklich so miteinander reden.“

Die Kinder in Ihren Büchern sind mutig, sie haben viel Zivilcourage und einen großen Sinn für Gerechtigkeit. Aber es gibt auch Zehnjährige, die rauchen und lügen und Unterschriften fälschen. Hat man Ihnen oft gesagt, Sie sollen bessere Vorbilder schaffen?

Sicher hat man mir das gesagt. Aber ich schreibe ja nicht, um Vorbilder zu schaffen. Literatur ist für mich, ein Stück Welt in Sprache umzusetzen. Manchmal hab ich mir schon gedacht, dass meine Bücher den Erwachsenen besser gefallen als den Kindern. Zum Beispiel „Der Spatz in der Hand“, da ging ich von einer falschen Voraussetzung aus: In Kinderbüchern sind die Kinder zwar frech und tun Sachen, die verboten sind, aber im Grunde sind sie edle Menschen. Ich meinte, es frustriere Kinder, dauernd von so edlen Geschöpfen zu lesen. Ich habe an mich als Kind gedacht und ein Kind beschrieben, das ganz nett ist, aber schon ein bissl sehr opportunistisch. Nein, das haben die Kinder nicht mögen! Ich habe in einer Schulklasse gefragt: Seid ihr nicht auch ein bissl so? Oh ja, haben sie gesagt – aber lesen wollen sie das nicht. Und dann haben sie mir den Ratschlag gegeben, ich soll ein edles Mädchen zur Hauptfigur machen, und die könnte dann eine Freundin haben, die so opportunistisch ist.

Haben Sie sich Ihr inneres Kind bewahrt?

Zu einem guten Teil. Wenn ich eine Dreijährige weinen sehe und höre, dann kann ich heute noch, anscheinend viel besser als andere Menschen, auseinanderhalten, ob das Kind aus Wut oder aus Verzweiflung weint. Die Emotionen, die Kinder haben, die stecken noch in mir. Auch die Ablehnungen stecken in mir. Es gibt eine gewisse Hermine, die mit mir in die Volksschule ging. Die hat mir nie etwas getan, aber ich mochte sie überhaupt nicht. Die hat so ein dickes weißes Speckgnack gehabt und so komische kleine Würschtelfinger, und sie war mir zuwider. Wenn ich heute noch bei einer Lesung ein Kind sehe, das dieser Hermine ähnelt, dann muss ich mich beherrschen. Wenn die Kinder nach der Lesung Fragen stellen und so eine zeigt auf, dann neige ich dazu, sie zu übersehen. Dann muss ich mich zur Räson rufen und zu mir sagen: Spinnst? Das Kind kann ja überhaupt nichts für deine Abneigung! Oder, was ich schon als Kind gemacht habe: Bei einem gefliesten Hausflur nur auf jede zweite Fliese steigen, und ja nicht auf die Zwischenräume! Das mache ich noch immer, mit großem Vergnügen!

Sie waren ein aufmüpfiges Kind.

Es wurde mir ja auch leicht gemacht. Ich war weit und breit das einzige Kind, das nie geschlagen wurde, das auch nie Strafen bekam. Meine Mutter hat manchmal mit Liebesentzug gearbeitet: „Redest mich heute aber nicht mehr an!“ Das war aber auch nicht ernst zu nehmen.

Glauben Sie, ist die heutige Jugend angepasster geworden?

In Bausch und Bogen kann ich das nicht beurteilen. Es war ja nur so eine kurze Zeit, in der junge Leute wirklich aufbegehrt haben. Es ist für junge Leute heute auch viel schwerer. Um aufzubegehren, muss man sich sicher im Leben fühlen. Um 1970 herum waren sich eigentlich jeder noch so aufbegehrende Student und jede Studentin sehr im Klaren, dass sie, wenn sie mit dem Aufbegehren aufhören, einen Job kriegen werden. Das ist heute ganz anders. Wir sehen heute ein Aufbegehren von rechts, die sogenannten Wutbürger.

Oder „besorgte Bürger“, wie sie sich gern nennen.

Ich bin besorgt, wenn ich mir die anschaue! In den letzten Jahren bin ich nur noch traurig und fassungslos. Weil ich das nie für möglich gehalten hätte, dass so viele Menschen in Europa wieder zum Nationalismus hinwollen, zur Kleinstaaterei, und überhaupt nicht kapieren, wie die Situation ökonomisch ist. Wütend kann ich nicht mehr werden, ich bin kein wütender Mensch. Die Grundstimmung ist ratlos, traurig.

Beschäftigt Sie das sehr?

Ja, es beschäftigt mich. Sicher wird sich die Zeit wieder verändern. Aber ich werde jetzt 80, in diesen paar Jahren, die ich noch lebe, verändert sich das nicht. Da kann ich nur sehen, wie das schlimmer und schlimmer wird. Und so hab ich mir das eigentlich nie vorgestellt. Ich war immer ein optimistischer Mensch. Irgendwann, so um die 50, 55 Jahre, war ich politisch frustriert. Mein Mann hat immer gesagt: „Unsere Ideen müssen überwintern.“ Aber diesen langen Winter, den überlebe ich nimmer. Vielleicht wird es in 30, 40 Jahren anders. Ich sehe keinen Hoffnungsschimmer am Horizont.

Zurück zum Lesen. Sie schreiben in Ihren Erinnerungen, Sie hätten als Kind alles gelesen, und alles habe Ihnen gefallen: „Kritische Urteile kann man sich von Leserinnen dieses Alters auch nicht erwarten.“ Haben Sie sich als Kinderbuchautorin dann nicht eine sehr einfache Zielgruppe ausgesucht?

Na ja, kann man sagen. Es gibt natürlich auch Kinder, die nenne ich „die echten Leser“. Früher haben Kinder zwischen zehn und 14 Jahren gelesen, weil sie nichts anderes durften. Elektronische Medien hat es nicht gegeben, mit der Peergroup durften sie noch nichts unternehmen, da sind sie halt daheim gesessen und haben gelesen. Die haben dann aber zu lesen aufgehört und sind beim Sportteil der „Kronen Zeitung“ geblieben. Unter den Erwachsenen, sagt man, gibt es ungefähr sieben Prozent echte Leser, die Literatur lesen. Und ich denke mir, mit der Zeit wird es halt auch unter den Kindern nur mehr sechs, sieben Prozent echte Leser geben, die gern lesen und Qualität erkennen. Der Rest liest nimmer: Der hat Fernsehen, der hat sein Smartphone, der hat es nicht nötig zu lesen.

Sie gelten als große Antipädagogin, Sie wollten Kinder nie erziehen. Was sollen Ihre Bücher bei Kindern bewirken?

Primär sollen sie die Kinder auf einem Niveau, für das weder ich, noch die Kinder sich genieren müssen, unterhalten. Zweitens sollen sie ihnen ein Stück Welt erklären. Und dann tun sie anscheinend noch etwas, wie mir viele Erwachsene sagen: „Ihre Bücher haben mich über die Pubertät gerettet, die haben mich so getröstet.“ Das soll mir recht sein, aber es war nie meine Absicht.

Woran schreiben Sie gerade?

Jetzt schreibe ich gerade Dialektgedichte. Ich mache nur mehr, was mir Spaß macht. Für kleine Kinder kann ich noch gut schreiben. Für ältere traue ich mich das nimmer. Man muss ein Jugendbuch aus der Sicht der Helden schreiben. Ich habe wirklich nix gegen die heute Zwölf-, 13-, 14-Jährigen. Aber ich verstehe sie nicht. Dieses ewige Starren auf ihre Smartphones und das Herumwischen.

Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?

Eigentlich nichts. Natürlich kann ich mir Gesundheit wünschen, ein langes Leben, oder dass es meiner Verwandtschaft gut geht, aber wenn ich an erfüllbare Wünsche denke . . . Auf Kleidung lege ich keinen Wert mehr, zum Autofahren bin ich zu alt. Ich lehne auch solche Sachen ab wie diesen Professorentitel, den ich lächerlich finde. Hat ja eh schon jeder einen. Aber ohne mich!

Steckbrief

13. Oktober 1936.
Christine Nöstlinger kam in Wien zur Welt und wuchs im Bezirk Hernals auf.

1954 schrieb sie sich an der Akademie für angewandte Kunst ein. Sie studierte Gebrauchsgrafik, heiratete zweimal und bekam zwei Töchter.

1970 erschien ihr erstes Kinderbuch, „Die feuerrote Friederike“, das auf Anhieb ein Erfolg wurde. Seitdem hat sie über 100 Bücher geschrieben.

1980 begann Nöstlinger, Glossen und Kommentare für verschiedene (Boulevard-)Zeitungen zu schreiben.

1984 erhielt sie die Hans-Christian-Andersen-Medaille. 2003 wurde sie gemeinsam mit Maurice Sendak mit dem Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis ausgezeichnet.

Christine Nöstlinger lebt heute in Wien.

Neu erschienen

„Best of Christine Nöstlinger“. Eine Box mit drei Bänden, darunter Nöstlingers Erinnerungen „Glück ist was für Augenblicke“ sowie gesammelte Glossen und Geschichten, ist im September im Residenz-Verlag erschienen. 750 Seiten, 29,90 Euro.

„Maikäfer flieg“.Mirjam Unger hat Nöstlingers Kindheitserinnerungen an das Kriegsende verfilmt. „Maikäfer flieg“ erscheint am 7. Oktober auf DVD und läuft in ausgewählten Programmkinos.

Krieg aus Kindersicht: Maikäfer Flieg

Gelesen von Barbara Petsch

„Ich schaute zum Himmel. Der Himmel war vergissmeinnichtblau. Und dann sah ich die Flieger.“ Christine Nöstlinger erzählt in „Maikäfer flieg“, ihrem erstmals 1973 erschienenen, heuer verfilmten Roman, ein Stück ihrer eigenen Geschichte und auch viel von sich selbst. Eine Achtjährige blickt auf die Zerstörung ihrer kleinen Welt. Die taube Großmutter kocht im Bombenhagel seelenruhig Kartoffeln, der Vater hat zerschossene Beine, die Mutter ist jeden Tag stundenlang unterwegs, um einige wenige Lebensmittel aufzutreiben. Und doch hat die Familie Glück, eine Nationalsozialistin quartiert sie zum Aufpassen in ihrer Villa in Neuwaldegg ein. Dann kommen die in Panik erwarteten Russen. Zwischen offener Traumatisierung – die Ich-Erzählerin soll Vaters Uniform zur Verbrennung heranschleppen und sieht plötzlich das ganze Zimmer wie in einem umgedrehten Fernrohr, winzig klein – und dieser für Kinder typischen Mischung aus Gruseln, Grauen und Faszination schreibt ein Mädchen einfach auf, was es sieht. Der Stil ist lakonisch, als ginge es um einen Aufsatz über „das schönste Ferienerlebnis“. Dieses Nöstlinger-Buch ist ein Meisterwerk, erschienen zu einer Zeit, als vieles aus der Kriegszeit verdrängt wurde, und daher nicht nur ein fantastisches, sondern auch ein mutiges Buch.

Revolution im Keller: Wir pfeifen auf den Gurkenkönig

Gelesen von Katrin Nussmayr

Der Haussegen bei den Hogelmanns hängt schief. Nicht, weil der Wolfgang einen Mathefünfer mit sich herumschleppt, von dem er sich nicht zu berichten traut, nicht, weil die Martina einen Freund hat, dessen Haare dem Papa zu lang sind. Sondern weil sich der Kumi-Ori-König, ein Geschöpf zwischen Gurke und Kürbis und ein richtig arroganter Ungustl, bei ihnen eingerichtet hat. Seine Kumi-Ori-Untertanen, erdäpfelähnliche Kreaturen, die unten im feuchten Keller wohnen, haben ihn vertrieben, jetzt lebt er seine monarchischen Machtansprüche eben bei der Familie Hogelmann aus – wo sein autoritäres Benehmen nicht nur auf Begeisterung stößt.
Die Frage eines Kindes nach dem Unterschied zwischen Revolution und Putsch hat Nöstlinger zum „Gurkenkönig“ inspiriert. Aus der Kinderperspektive erzählt sie die fantasiereiche und gnadenlos ehrliche Geschichte einer Familie, deren – stille oder offen ausgetragene – Konflikte durch die Intrigen des „Gurkingers“ auf die Spitze getrieben werden. Es geht um kindliche Ängste, ums Auflehnen gegen unsinnige Regeln, um geschwisterlichen Zusammenhalt und darum, wie politische Fragen eine Familie spalten können – wohl auch deshalb ist das Buch noch heute nicht nur eine anregende, sondern auch eine überaus aktuelle Lektüre.

Abflug in die Utopie: »Die feuerrote Friederike«

Gelesen von Katrin Nussmayr

Das muss man sich einmal vorstellen: ein kleines dickes Mädchen mit Haaren, deren Farbe von Karotte über Paradeiser bis zu Rotwein reicht, die noch dazu glühen und fliegen können! Und damit fliegt das Mädchen in ein fernes Land, und es nimmt einen Kater mit, der sprechen kann (nur wenn Besuch da ist, hält er sich zurück), und einen farbenblinden Briefträger, der so tut, als könnte er eh Farben sehen.
Vom Anderssein, von Ausgrenzung und auch von einer sehr politisch gefärbten Utopie erzählt Christine Nöstlinger in ihrem allerersten Buch „Die feuerrote Friederike“ (erschienen 1970), das sofort ein Erfolg wurde: In dem geheimnisvollen Land arbeitet jeder so viel, wie er möchte, alles wird geteilt, es gibt schöne Schulen, und kein Kind wird ausgelacht. Die bittere Wahrheit wird mitgeliefert: Ein perfektes Land gibt es nicht, jedenfalls nicht für Menschen mit gewöhnlichen, flugunfähigen Haaren.
Die Geschichte stand dabei gar nicht am Anfang von Nöstlingers Karriere als Kinderbuchautorin: Die ausgebildete Grafikerin hatte Friederike erst gezeichnet und die Erzählung später um die Bilder herum gebaut. Die große öffentliche Anerkennung (die dem Text galt, weniger den Illustrationen) ermutigte sie, weiter zu schreiben. Welch Glück!

Realität in verträglicher Dosis: Gretchen Sackmeier

Gelesen von Ulrike Weiser

Sackbauer – Sackmeier: Auch wenn mir der Gleichklang damals nicht auffiel, fühlbar war er schon. Denn sowie mit Edmund Sackbauer der Gemeindebaualltag ins Fernsehen einzog, holte Gretchen Sackmeier den – wenn auch sehr bürgerlichen – kindlichen Scheidungsalltag ins Kinderbuchregal. Zwei Tabus landeten im Wohnzimmer. Was heute no-na ist, war in den Achtzigern noch aha, nämlich die Erkenntnis, dass man nicht der/die Einzige ist, deren/dessen Eltern sich trennen. Die Gretchen-Trilogie, vor allem der erste Band, zeichnete ein realistisch-konkretes Bild einer nicht antiseptischen Kindheit: ängstliche Abendessenidyllen, überforderte Erwachsene, Kinder, die sich bemühen, die Ehe ihrer Eltern zu therapieren, mit ihrer Altklugheit aber bisweilen scheitern und nebenbei mit dem zu kämpfen haben, was sonst so zum Beginn der Teenagerzeit dazugehört: erste Sexualität oder Babyspeckrollen etwa. Das pädagogisch Wertvolle bei Nöstlinger, die nie pädagogisch wertvoll sein wollte, ist, dass ihre Dramen dabei nie Tragödien werden. Das liegt einerseits am geerdeten Humor, andererseits daran, dass – ganz wie im Sackbauer‘schen Gemeindebau – die Realität in verträglichen Dosen verabreicht wird. Genug, um den Kitsch zu vertreiben, aber nie so viel, dass das Unschuldige verloren geht. So kommt das Scheidungsbuch vorerst ganz ohne Sackmeier-Scheidung aus. Manchmal ist auch die Nöstlinger sehr Österreich.

Bitte nicht vorlesen: Mini-Bücher

Gelesen von Bettina Steiner

Zunächst war ich fast ein wenig enttäuscht, als ich das erste Mal die Bücher über die lulatschlange Mini in die Hand nahm. Sympathisch waren die Geschichten, ja. Witzig auch. Und diese Mini: der könnte man jederzeit in einem Wiener Beserlpark begegnen. Doch ich hatte die Nöstlinger schärfer in Erinnerung: als Verfasserin von „Der Spatz in der Hand und die Taube auf dem Dach“, in dem sich ein Mädchen immer wieder aufs Klo verzog, weil das der einzige Ort war, wo es seine Ruhe hatte. Oder als Autorin von „Rosa Riedl Schutzgespenst“ in dem ein Geist erzählt, wie das war: als man die Juden gezwungen hatte, mit dem Zahnbürstl die Straße zu putzen.
Aber ich war voreilig: Wer nämlich die wahre Kunst der Mini-Bücher (und auch der Bücher vom Franz!) verstehen möchte, muss sie einem Kind in die Hand drücken, das eben erst flüssig zu lesen gelernt hat. Da ist jeder Satz so gebaut, dass er rasch erfasst werden kann, da findet man kein Wort, über das ein Volksschüler stolpern würde, die Länge ist optimal, die Geschichten sind aus ihrer Lebenswelt gegriffen. Und vor allem: Es gibt Nachschub!
Deshalb der Rat an alle Eltern: Lest die Geschichten von Mini und Franz nicht vor. Kauft keine Hörbücher. Wartet ab, und lasst die Kinder ihre Nöstlinger selber entdecken. „Der Spatz in der Hand“ und „Rosa Riedl Schutzgespenst“ kommen dann später. ?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.09.2016)

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