Als ich noch nichts von später wusste

Kurt Palm
Kurt Palm(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Mädchen, Musik und Vietnamkrieg: Kurt Palm erzählt in „Strandbadrevolution“ von einem Sommer in der Provinz, wo lange nichts passiert und dann nichts mehr so ist, wie es war.

Mick heißt eigentlich Ernst und sollte für die Französisch-Nachprüfung lernen. Doch im Sommer 1972 sind ganz andere Dinge wichtig: wie man am Buffet im Strandbad mit Mädchen ins Gespräch kommt, etwa. Warum Mick Jagger, dessen größter Verehrer er ist (daher der Name), in „You can't always get what you want“ die Seele von Mister Jimmy stiehlt. Wie Jane Fonda im Kampf gegen den Vietnamkrieg unterstützt werden kann. Und vor allem, wie das System geändert, das Spießbürgertum aufgeweckt werden kann.

Ein nostalgischer Rückblick auf die frühen 1970er-Jahre in der österreichischen Provinz, könnte man meinen. Doch schon nach den ersten Seiten des neuen Romans von Kurt Palm merkt man: Hier wird nicht verklärt, aber auch nicht ironisiert. Palm nimmt seine Figuren ernst, ihren Liebeskummer, ihre Leidenschaft für Musik und ihre Sorge um die Welt, während die USA Nordvietnam bombardieren. Daheim finden sie für ihre Anliegen kein Verständnis. Micks Vater ist zwar Arbeiter, aber er „interessierte sich mehr für Garagentore als für den Klassenkampf“. Im Strandbad wird der Umbruch geplant. Aber nicht nur die Mädchen und die ersten Versuche in der Liebe bringen alles durcheinander.


Wintermantel im Hochsommer. Mick ist stolz auf seine langen „Federn“ und trägt die alten Unterhemden des Großvaters, die mit den langen Ärmeln und den drei Knöpfen im Ausschnitt. Die Mutter geniert sich, was sollen die Leute denken? Vor allem, wenn der Bub im Hochsommer mit schwarzem Wintermantel durch den Ort geht. „Auch Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison haben schließlich extravagante Klamotten getragen, warum nicht auch ich? Okay, ich war kein Rockstar und war auch noch nicht tot, aber das zählte jetzt nicht.“

Schon die erste revolutionäre Aktion geht schief: Eine kämpferische Parole auf der Bankfassade ist geplant, stattdessen sprayt einer der Freunde einen nicht ausgemachten Spruch auf die Kirche, und das noch dazu nicht fehlerfrei: „Ora et devlora.“ Ein Tropfen Tinte ist ins Glas gefallen, rein kann das Wasser nicht mehr werden. In den heißen Sommer mischt sich Frösteln aus der Zukunft; im Roman passiert dies in knappen Einschüben über das, was später passieren sollte. „Aber das konnte ich im Sommer 1972 natürlich nicht wissen.“

Harmlos ist letztlich gar nichts, nicht einmal die Tiefkühltruhe im Keller, der Stolz der Mutter, in der sie neben einem Truthahn und einem halben Schwein zehn Familienpackungen Eis und 40 Becher Schlagobers eingefroren hat. Weil sie im Angebot waren. Die Eltern waren Ende des Krieges aus Kroatien geflohen, die Angst vor einer Hungersnot ist ihnen geblieben. Über das Essen versichert sich die Familie (Mick hat noch zwei Geschwister) wortlos ihrer engen Verbundenheit. Beim Familienurlaub in Jugoslawien nimmt die Mutter, die Krapfen für den halben Campingplatz bäckt, dafür sogar einen Sonnenstich in Kauf.

Die Fahrt mit dem alten Opel Kapitän über den „Wurzelpass“, wie der Vater den Wurzenpass beharrlich nennt, fasst zuvor mit wenigen Szenen alles zusammen, was die 1970er-Jahre ausmacht – und damit ist mehr als das Materielle gemeint. Dabei wird mit Worten gespart: Vieles bleibt ungesagt, angedeutet, reduziert; es wird nicht sentimental.

Man hätte von Palm ein groteskes Pointenfeuerwerk erwartet, umso mehr überrascht der feinsinnige Humor, der sich aus den recht lakonisch dargestellten Situationen und Dialogen ergibt. Spezifisch österreichische Wörter (Matte, Unterflack, fladern) sind dezent in den Text gestreut. Er bleibt für den deutschen Markt verständlich und biedert sich dem österreichischen nicht an.

Der Sommer endet mit einer Katastrophe. Mick ahnt noch nicht, dass es dabei nicht bleibt. Man will die Rolling Stones hören, wenn man „Strandbadrevolution“ liest. Extrawurstsemmeln essen und ein paar Tränen hinunterschlucken. Denn man trauert um den Verlust einer Unbeschwertheit, die es nie gegeben hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.02.2017)

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