Neues Genre in der Literatur: Ich erinnere mich an ...

Im Hause der Familie Brandt
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Das Memoir – ja, die Einzahl – kommt auch im deutschsprachigen Raum in Mode. Aber was ist das genau? Warum kann man zu Matthias Brandts Buch nicht einfach Autobiografie sagen? Versuch einer Erklärung und drei Empfehlungen.

Eigentlich ist er Schauspieler, und zwar ein ziemlich bekannter. Matthias Brandt spielt unter anderem den Kommissar Hanns von Meuffels in der TV-Serie „Polizeiruf 110“, er gewann dafür einen Bambi. Außerdem ist er der jüngste Sohn des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt – und seit Neuestem Schriftsteller. Im Band „Raumpatrouille“ erinnert er sich an seine Kindheit in Bonn, mit Jahrmarktsausflügen zu PR-Zwecken, Limousinen mit getönten Scheiben und Wachposten, die dem Buben manchmal etwas von ihrem Teewurstbrot abgeben.
Für diese Art von Text gibt es einen Begriff, der in die deutschsprachige Literaturkritik erst langsam Eingang findet – im angelsächsischen Sprachraum ist er schon lang gebräuchlich

Im Gegensatz zur Mehrzahl, den Memoiren, lässt im Memoir der Verfasser nicht ein Leben Revue passieren, sondern beschränkt sich auf einen prägenden Ausschnitt. Und im Gegensatz zur klassischen Autobiografie wird das Leben nicht nacherzählt, sondern behandelt, als sei es ein Roman. Es ist ein eigenes literarisches Genre: Jonathan Franzens „Unruhezone“ gehört dazu, und Dave Eggers „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“: Das Ich wird zur Figur. Die Wirklichkeit zum Stoff, der zu verwandeln ist. Und die Erinnerung? Was ist die Erinnerung?

Brandt interessieren keine Anekdoten

„Alles, was ich erzähle, ist erfunden. Einiges davon habe ich erlebt. Manches von dem, was ich erlebt habe, hat stattgefunden“, dieses Motto stellt Brandt seiner „Raumpatrouille“ voraus, obwohl er in Interviews stets bekräftigt, dass seine „Geschichten“, wie er sie nennt, autobiografisch sind. Wer einen Schlüsselroman erwartet, wird also enttäuscht. Das liegt daran, dass der mächtige Vater meist als abwesender vorkommt, als einer, der sich ständig entfernt, von dessen Existenz vor allem die Kippen im Aschenbecher zeugen. Aber auch daran, dass Brandt Anekdoten nicht interessieren: Er erzählt von der Einsamkeit und Langeweile der Kindheit. Von leeren Räumen, leeren Tagen. Von den zähen, zermürbenden Versuchen, dieser Leere zu entkommen, durch ein Briefmarkenalbum, einen Astronautenpyjama, einen Zaubertrick. Und davon, dass man sich manche Wünsche verbieten muss: nach einer Familie, die sich am Abend regelmäßig um den Fernseher versammelt, zum Beispiel.

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