Das große „Ich bin ich“

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„Gotland“ könnte ein literarisches Experimentierfeld abgeben. In Michael Stavarić' gleichnamigem Bildungsroman ist jedoch nur von einem Engelsleichnam und vor allem von einem Mörder die Rede.Von dem man erfährt, dass eine „schizoaffektive Psychose“ bei ihm vorliegt. Und sonst? Lang, langatmig, langweilig!

Gotland, die schwedische Insel, könnte ein interessanter fiktionaler Experimentierraum sein. In dem gleichnamigen Roman von Michael Stavarič aber ist von einem derartigen Labor keine Rede, vielmehr von einem Steinbruch, von längst ausrangierten Industrieanlagen, von einem sogenannten Engelsleichnam und vor allem von einem Mörder. Gotland ist auch keineswegs der Hauptschauplatz. Er bleibt im Dunkeln wie vieles, zu vieles in diesem Buch.

Schon das Vorwort verheißt nichts Gutes. Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, räumt freimütig ein, dass sein neuer Roman fast von allein in kürzester Zeit einen Gesamtumfang von 1000 Seiten erreicht hätte, ein großartiges Buch, wie er zunächst einmal meint, über einen sagenumwobenen gotländischen Berg, vergleichbar, wenn überhaupt, allenfalls mit Petrarcas viel gerühmterSchilderung der Besteigung des Mont Ventoux; er schreibt und schreibt, mit gotländischer Tinte, den Nobelpreis vor Augen, bis seine Agentin und seine Verlegerin ihr Glückgar nicht mehr fassen können und sterben. Endlich bemerkt auch der Ich-Erzähler, dass sein Projekt leicht in einem gigantischen Chaos ersticken könnte, und so verbrennt er alle seine Manuskripte; am Ende bleiben, wie's der Teufel will, nur zwei Wörter noch übrig: „Gott“ und „Land“. Ein Vermächtnis. Wahnsinnig witzig gemeint, nur leider nicht spritzig geschrieben.

Was man begehrt und verdammt

Auf das Vorwort folgt ein Prolog, in dem der Erzähler, inzwischen offenbar wieder recht selbstbewusst, über Gott und die Welt schwadroniert, in erster Linie dazu angeregt von Gotland (von der Insel, von dem Wort, egal). „Gotland“, das zeigt ihm schon die Karte, „spiegelt wider, was man ist, was in einem steckt, was man verloren hat, was man begehrt und verdammt“. Alles eben, was gut und teuer ist, für den Einzelnen. Die großen Erzählungen, die darüber hinaus auch noch gesellschaftliche Entwicklungen ins Auge gefasst und kritisch betrachtet haben, bekümmern diesen Erzähler längst nicht mehr, Hauptsache: Ich bin Ich. Das große Ich. Keine Spur von (Selbst-)Ironie.

Das erste der drei Hauptkapitel heißt, ganz bezeichnend, schlicht Genesis. Der Erzähler erinnert sich: an die Bibel, aus der ihm seine Mutter offenbar pausenlos vorgelesen hat, an die schreckliche Zeit in der katholischen Grundschule, schließlich an die Pubertät, in der alles schon angelegt worden ist, was ihn später zu jenem Handeln treibt, das sein Leben ruiniert. Ein Bildungsromankapitel, Schema F, lang, langatmig, langweilig: Die Bubenstreiche. Die Turnsaal- und die Schwimmbadgeschichten. Die Borniertheit der Lehrpersonen. Das Getuschel der Schülerinnen. Der Sexualkundeunterricht auf der Straße. Die Inzestfantasien.

Das alles ist doch in Tausenden Geschichten schon dargestellt und aufgewärmt worden – oftmals weit raffinierter erzählt als in diesem Roman. Hier, gewiss begründet, aus der Perspektive eines rettungslos verlorenen Protagonisten, von dem man, viel später, erfahren wird, dass er sich, nach der Einweisung in eine Anstalt, durchaus mit jener Langzeitmedikation einverstanden zeigt,die er ganz offensichtlich braucht und die ihm auch in verschiedenen psychiatrischen Gutachten nahegelegt wird.

Das Buch Charles (zweites Hauptkapitel)führt einen Akteur ein, der als Prophet, als Sektengründer, als Überirdischer auftaucht und zugleich, den Erzähler jedenfalls, an einen Fisch erinnert, aber wohl dessen Alter Ego repräsentiert: „Ich wurde später gefragt, was ich wirklich über Charles dachte, wie nahe er mir tatsächlich gekommen war“, zieht der Erzähler einmal Bilanz, klar sieht er ja nichts, also fast nichts. Wenn die Tür zum Schlafzimmer seiner Mutter sperrangelweit offen steht, um nur ein Beispiel anzuführen, sieht er doch allerhand. Auf die Frage, warum es ihn nach Gotland verschlagen habe, gibt er nur ausweichende Antworten; ist es der Zauber der Insel, die Arbeit im Steinbruch (die es ihm erlaubt, ein rotes Kreuz zu zerschlagen), ist's die Faszination, die von Charles ausgeht („Er war fast schon Jesus Christus“)?

Sicher ist nur, dass sein Vater dort seiner Mutter begegnet und gleich darauf wieder verschwunden ist und dass er seither auf der Suche nach einem Ersatzvater durch die Welt irrt und unablässig an Gott denkt. Er hält es mit Charles, der seinen Jüngern eintrichtert, dass Gott nichts anderes illuminiere als „die Zementierung des Stillstands, eine Wahrung und Aufrechterhaltung der ihm gefälligen Verhältnisse“, und grinsend hinzufügt, selbst in den Sagen und Märchen „stehe geschrieben, dass man jeden zu Fall bringen, dass man alles töten könne“. Der Erzähler, der so lang und so unermüdlich „das Ende der uns knechtenden Gebote und Gesten“ herbeigesehnt hat, lässt sich solchesnicht zweimal sagen.

Das Gutachten. Das dritte Hauptkapitel konfrontiert einen Polizeibericht, aus dem hervorgeht, dass ein gewisser Charles Hansson seine Mutter auf bestialische Weise getötet habe und wenig später betend an deren Bett angetroffen worden sei, mit den Äußerungen des Mörders, der von mystischen Erlebnissen zu berichten weiß, die ihm der Aufenthalt auf Gotland vermittelt hätte, und auch über seine vergeblichen Versuche sich ausspricht, einen Vaterersatz zu finden. Charles Hansson gibt zu verstehen, was alles ihm jegliche Freude am Leben verleidet habe, und gesteht schließlich doch, dass er sich schuldig fühle und krank. Das Gutachten teilt abschließend mit, dass bei Charles Hansson „eine schizoaffektive Psychose vorliegt, spricht also eine ganz andere Sprache als der Erzähler und scheint beinah geeignet,für dessen Erzählstrategien, wenigstens im Nachhinein, Verständnis zu wecken: Wäre unter diesem Vorzeichen nicht der ganze Roman neu zu lesen?

Wenn Stavarič am Schluss darauf hinweist, dass das im Buch erwähnte Notizheft des Mörders, eine Gedichtsammlung, zeitgleich erschienen sei, in Wien, unter dem Titel „in an schwoazzn kittl gwicklt“, dann macht er Werbung in eigener Sache. Das schmale Buch verdient solche Reklame eigentlich nicht, noch weniger, dass es womöglich im Fahrwasser von H. C. Artmann betrachtet wird. Dieser hat nämlich noch „med ana schwoazzn dintn“ geschrieben, und nicht mit gotländischer Tinte. Abgesehendavon, dass der Praterstritzi, der sich in diesen Gedichten als notorischer Schwarzseher ausgibt und über Gott und die Welt schimpft,mault und jammert, aus einem ganz anderenHolz als Charles Hansson geschnitzt ist: Er träumt doch noch immer am liebsten vom Kasperltheater, vom „kaschparl und sain grogodüü“, unschuldig, wie er ist.

Nur mit der Rechtschreibung und mit der Grammatik steht er auf Kriegsfuß, er hat, wie's scheint, nicht einmal mitbekommen, dass der Dialekt kein Präteritum, sondern einzig und allein das Perfekt als Tempus des Erzählens kennt: Artmann und Qualtinger bleiben als Bezugsgrößen unerreicht. ■

Der Autor

Michael Stavarič
Gotland
Roman. 352 S., 21 SW-Abb., geb., € 20,60 (Luchterhand Literaturverlag, München)

Michael Stavarič
in an schwoazzn kittl gwicklt
Gedichte. 112 S., brosch., € 17 (Czernin Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2017)

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