„Nie waren Menschen verlorener“

Eindringlich beschreibt Reinhold Messner in „Wild“ ewiges Eis, klirrende Kälte und gnadenlose Finsternis.
Eindringlich beschreibt Reinhold Messner in „Wild“ ewiges Eis, klirrende Kälte und gnadenlose Finsternis.(c) Simen Zupancic
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Reinhold Messner hat selbst die Antarktis durchquert. In „Wild“ singt er das Loblied derer, die es 70 Jahre vor ihm versuchten.

Es ist der 15. April 1916. Der berühmte englische Pol-Forscher Ernest Shackleton und sein Adlatus Frank Wild retten sich mit 25 Männern auf Elephant Island, eine winzige Insel im antarktischen Meer südlich von Kap Hoorn. Ihr Schiff, die Endurance, war monatelang zwischen Eisschollen eingekeilt gewesen, zuletzt wurde sie zerquetscht. Niemand weiß, dass die Expedition in Schwierigkeiten steckt, Europa ist mit sich und dem Ersten Weltkrieg beschäftigt.

Shackleton beschließt, das Unmögliche zu wagen und das wildeste Meer der Welt in einem sieben Meter langen Rettungsboot zu durchqueren. 700 Meilen hinauf bis Südgeorgien muss er schaffen, bevor der südliche Winter einbricht, sonst sind alle verloren.

Zurück bleibt ein Häufchen von 22 Männern, verdammt zum Warten, zum Nichtstun und zur Ungewissheit, ob sie zuerst gerettet oder zuerst erfrieren werden. Der Einzige, der ihnen Hoffnung gibt, ist Frank Wild. „Nie waren Menschen verlorener“, schreibt der Extrembergsteiger Reinhold Messner in seinem Buch „Wild“ über das Grüppchen, das insgesamt vier Monate auf Elephant Island würde ausharren müssen, ehe am 30. August 1916 Hilfe kam.

Reinhold Messner kann sich wie kein zweiter in die Lage von Menschen hineinversetzen, die die Natur regelmäßig herausfordern, ja herausfordern müssen. Getriebene sind sie, mit der „Unruhe der Horizontsüchtigen“. Die einen wollen Ruhm, die anderen Ehre, die dritten jemanden besiegen, die vierten einfach nur aufbrechen, wieder und wieder. Messner kennt diese Facetten. Er bestieg als erster Mensch alle 14 Achttausender, darunter erstmals den Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff. 1989/90 gelang ihm zusammen mit Arved Fuchs die Durchquerung der Antarktis.


Der „Boss“, ein Rattenfänger. Dabei wandelte er auf den Spuren von Ernest Shackletons Endurance-Expedition, die über das tückische Packeis allerdings nie hinauskam und stattdessen zu einer der spektakulärsten Rettungsaktionen der Geschichte wurde. Messner nimmt die Persönlichkeit Shackletons unter die Lupe. Er analysiert, was den „Boss“ zu einem solchen Rattenfänger machte, dass Männer ihm immer wieder ins ewige Eis folgten.

Noch mehr interessieren Messner aber die Helden der zweiten Reihe, ohne die keine Expedition weit kommt. In diesem Fall ist es Frank Wild, nach dem das Buch benannt ist. Wild, der einer kinderreichen Familie in Yorkshire entstammte, verfügte über eine Kombination seltener Gaben: Er war loyal – bis zum Tod, er ist neben Shackleton begraben -, bewahrte in jeder Situation Ruhe und Übersicht, kommunizierte mit den Männern auf Augenhöhe und schaffte es vor allem, ihnen Mut zu machen. Auch die vier Monate, die sie – notdürftig geschützt durch zwei umgedrehte Rettungsboote – auf Elephant Island zubrachten, viele Wochen davon in permanenter Finsternis und dem Wahnsinn nahe. Der kleine, glatzköpfige Pfeifenraucher hielt die Gruppe beisammen, mit einer Mischung aus Witz, Zynismus und Geduld.

Interessant sind auch die Vergleiche, wie sich die einzelnen Nationen beim Rennen zu den Polen anstellten. Im Zeitalter vor „Best Practices“ galt es als Schwäche, von anderen zu lernen. Jeder Forscher legte großen Wert auf die nationalen Tugenden. So war es für die Briten unvorstellbar, Schlittenhunde zu erschießen und als Futter für die überlebenden Tiere zu verwenden. Die Norweger hatten weniger Skrupel – und standen als Erste am Südpol.

„Wild“ ist eine Mischung aus Roman und Sachbuch, geschrieben von einem Autor, der mehr gefroren hat als alle seine Leser zusammen. Stellenweise schildert Messner die Kälte so eindringlich, dass es einen sogar im Warmen fröstelt. Sprachliche Unschärfen übersieht man da großzügig, nicht so die Entscheidung, Bilder ohne Bildunterschriften abzudrucken. Man kann sich zwar zusammenreimen, was man sieht, zusätzliche Informationen wären allerdings kein Luxus gewesen.

Neu Erschienen

Reinhold Messner
„Wild“

S. Fischer Verlag
312 Seiten
20,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2017)

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