Schriftstellerin Annie Ernaux: „Das tote Kind war das schlimmste Tabu“

„In den Neunzigerjahren habe ich mich offen mit einem Mann gezeigt, der 28 Jahre jünger war als ich. Selbst in den aufgeschlossensten Künstlerkreisen wurde ich schief angesehen“: Autorin Annie Ernaux, Meisterin des literarischen Rückblicks.
„In den Neunzigerjahren habe ich mich offen mit einem Mann gezeigt, der 28 Jahre jünger war als ich. Selbst in den aufgeschlossensten Künstlerkreisen wurde ich schief angesehen“: Autorin Annie Ernaux, Meisterin des literarischen Rückblicks.(c) Paolo Verzone / Agence Vu / pict (Paolo Verzone)
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Schriftstellerin im Gespräch. Scham über erlebte Gewalt prägte ihr Leben, sie machte daraus große Literatur: Die Französin Annie Ernaux über sexuelle und noch ärgere Tabus, soziale Schande und das Einzige, was ihr an Macron gefällt.

„Die Presse“: Ihr Buch „Die Jahre“, das nun endlich auf Deutsch erschienen ist, schildert Ihre Lebenszeit als Gesellschaftsepoche, vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute. Sie erzählen von sich, aber in der unpersönlichen, nicht in der Ichform. Warum?

Annie Ernaux:
Weil ich mein Ich nicht als Kontinuität erlebe, sondern als etwas Fragmentiertes. Das Buch illustriert das. Sogar Simone de Beauvoir beginnt noch mit „Ich wurde geboren“ – das fehlt hier völlig. Es gibt nur ein Kind, das zur Welt kommt, und die Frage: In welche Welt kommt dieses Kind? Bei jedem Foto kommen neue Indizien, aber nicht unbedingt Verbindungen zu dem, was davor war. Da ist etwas Zufälliges in dem, was passiert, und das möchte ich vermitteln.

In Ihren Büchern haben Sie immer wieder Ihre persönliche Geschichte verarbeitet. Als Kind erlebten Sie 1952 mit, wie Ihr Vater versuchte, Ihre Mutter zu töten, vor 20 Jahren schrieben Sie zum ersten Mal darüber. Warum war es gerade dieses Gefühl, das zurückblieb und Ihr späteres Leben so bestimmte?

Ein Grund ist, dass danach alle darüber geschwiegen haben, auch meine Mutter. Wir haben nie darüber geredet. Was geschehen war, war beschämend, eine Schande, ein soziales Stigma. Auch weil Alkoholismus im Spiel war. Ich war ein Einzelkind, ich musste es allein mit mir herumtragen. In der privaten katholischen Schule, in die ich ging, war es absolut unmöglich, das zur Sprache zu bringen.

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