Die Sehnsucht nach der starken Frau

Naomi Aldermans deprimierendes Fazit: Macht korrumpiert immer.
Naomi Aldermans deprimierendes Fazit: Macht korrumpiert immer.(c) Justine Stoddard
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Wie nutzen Frauen „Die Gabe“, die sie Männern plötzlich körperlich überlegen macht? Naomi Alderman trifft mit ihrer Dystopie für das #MeToo-Zeitalter genau den Lesernerv.

Es passiert plötzlich. Junge Frauen und Mädchen, rund um die Zeit ihres sexuellen Erwachens, spüren plötzlich ein Knistern und Kribbeln, an ihrem Schlüsselbein zeigt sich ein pulsierender Strang. Das ist das Zentrum der Macht, über die sie auf einmal verfügen, und die sie in Stromstößen über ihre Hände abgeben können. Frauen auf der ganzen Welt, egal, wie entrechtet, haben auf einmal die Mittel, sich zu wehren und an jenen zu rächen, die sie seit jeher unterdrücken. Es gibt ein neues starkes Geschlecht. Doch ist es besser als das alte?

Als Naomi Aldermans „Die Gabe“ 2016 als „The Power“ auf Englisch erschien, war es das richtige Buch zur richtigen Zeit. Nicht nur war gerade ein offen frauenverachtender Präsident ins Weiße Haus eingezogen, sondern kurz darauf brach auch in Form von #MeToo ein weltweiter Shitstorm über Männer herein, die ihre Machtposition gegenüber Frauen zu sexuellen Zwecken missbrauchten. Dazu kam eine gefühlte gesellschaftliche Grundstimmung, die Frauen gegenüber nicht gerade positiv gesonnen war.

All das war Grund genug, um Aldermans Roman wie eine literarische Bombe einschlagen zu lassen. Unter dem Einfluss ihrer Mentorin Margaret Atwood („Der Report der Magd“) entwirft Alderman in der Tradition spekulativer Literatur eine Welt, in der die Machtverteilung auf den Kopf gestellt wird: Junge Mädchen elektrisieren Grapscher, Mädchenbanden terrorisieren die Städte, Jungs müssen zu ihrer Sicherheit in eigene Schulen gehen, gehandelte und missbrauchte Frauen üben blutige Rache an ihren Peinigern.


Gangstermädel und Hohepriesterin. Alderman erzählt dieses Zukunftsszenario anhand von vier Protagonisten: Roxy, uneheliche Tochter eines Londoner Gangsters, Allie, ein missbrauchtes Waisenmädchen aus dem Süden der USA, das sich als Hohepriesterin Mother Eve neu erfindet, Margot, eine geschiedene amerikanische Politikerin, deren Gabe von einer ihrer Töchter geweckt wird, und Tunde, ein afrikanischer Journalist, der den gesellschaftlichen Umbruch dokumentiert und dabei zunehmend das Fürchten lernt.

Das Fürchten lernen auch die Leser, denn wer gehofft hätte, dass Frauen aus der Rolle der Unterdrückten gelernt hätten und ihre neue Macht weise einsetzen würden, wird enttäuscht. Der Mensch bleibt des Menschen Wölfin. Manche Frauen nützen ihre innere Elektrizität, um sich Männer sexuell gefügig zu machen, ziehen mordend durch die Lande. Und warum? Aldermans Antwort ist so einfach wie deprimierend: da sie es können.


Starkes Buch, schwache Stellen. Obwohl das Buch im angelsächsischen Raum in den höchsten Tönen gelobt wurde, und das wegen seiner ungewöhnlichen Grundthese durchaus zu Recht, hat es doch auch Schwachstellen. An Atwoods Klassiker „Der Report der Magd“, mit dem der Roman verglichen wurde, reicht er nicht heran, die Figuren sind recht schablonenhaft. Was schade ist, denn Naomi Alderman kann auch subtil, und das sogar sehr gut. Das hat sie nicht nur in früheren Romanen wie „Ungehorsam“ über die Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen im jüdisch-orthodoxen Milieu bewiesen. Sondern das zeigt sie auch in der „Gabe“ unter anderem an der Figur des Journalisten Tunde (angeblich ihr Lieblingscharakter des Buchs), der immer ein Grenzgänger zwischen den Welten bleibt.

Witzig ist, dass die Geschichte als historischer Roman erzählt wird, im Rückblick auf eine Zeit, die erst kommen wird (oder auch nicht). Autor ist Neil Adam Armon (ein Anagramm auf Alderman), dem seine Brieffreundin Naomi rät, doch einmal unter einem weiblichen Pseudonym zu schreiben. Vielleicht hätte er dann mehr Erfolg.

Neu Erschienen

Naomi Alderman
Die Gabe

Übersetzt von

Sabine Thiele
Heyne
480 Seiten
17,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.02.2018)

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