Affäre Julia Kristeva: Star-Philosophin als Spionin?

Viel gefeiert, stets umstritten – nun kämpft sie verzweifelt um ihren Ruf: Julia Kristeva (76).
Viel gefeiert, stets umstritten – nun kämpft sie verzweifelt um ihren Ruf: Julia Kristeva (76). (c) imago stock&people (imago stock&people)
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Als „Sabina“ soll die berühmte Intellektuelle Julia Kristeva für den bulgarischen Geheimdienst gearbeitet haben: Der Fall schlägt weltweit Wellen.

Es klingt unglaublich. Julia Kristeva, die berühmte französische Intellektuelle, soll sich unter dem Decknamen „Sabina“ in Paris mit mörderischen bulgarischen Geheimagenten getroffen haben. Kristeva, die streitbare Literaturtheoretikerin und Psychoanalytikerin, einst ein Star des französischen Poststrukturalismus, soll dem Geheimdienst Personen und Kreise in Frankreich genannt haben, die zersetzend auf den Sozialismus wirken würden, speziell auf das kommunistische Regime in Bulgarien. Um die feministischen, philosophischen und politischen Positionen Kristevas haben sich schon oft Kontroversen entzündet. Der jetzige Streit um ihre Vergangenheit aber schlägt weltweit Wellen. Die heute 76-Jährige dementiert heftig.

Als Paris-Stipendiatin 1971 angeworben

Alles begann mit einer Mitteilung der bulgarischen Lustrationskommission, die sich mit der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit Bulgariens beschäftigt – mit ganzem Namen: „Kommission für die Offenlegung der Dokumente und die Bekanntgabe der Zugehörigkeit von bulgarischen Staatsbürgern zur Staatssicherheit und zu den Geheimdiensten der Bulgarischen Volksarmee“. Kristeva, berichtete die „New York Times“ am 1. April, sei demnach 1971 unter dem Decknamen „Sabina“ für den bulgarischen Auslandsgeheimdienst angeworben worden. Angeblich das zufällige Ergebnis einer Routineuntersuchung, vorgenommen wegen einer neuen Position, die Kristeva in Bulgarien angeboten worden war: Sie sollte in das Herausgeberkollegium der bulgarischen Zeitschrift „Literarischer Bote“ aufgenommen werden.

Die Authentizität des Dossiers bestreitet nicht einmal Kristeva selbst. Sie dementiert allerdings, dass das darin Geschilderte der Wahrheit entspricht. „Ich habe eine große Frage an die Kommission“, sagte sie in einem Telefonat mit dem Autor Ilja Trojanow: „Hat sie überprüft, ob die angeblichen Tatsachen, von denen hier die Rede ist, nicht von den Autoren manipuliert sind?“ Sie erklärt, dass die Autoren der Akte sich die Schilderungen ausgedacht haben müssen.

Chefredakteur als Verbindungsmann

Drei Bände mit insgesamt mehreren hundert Seiten umfasst das veröffentlichte Dossier Kristeva. Geschrieben mit Schreibmaschine, versehen mit Unmengen von Aktenzeichen. Die Berichte darin sollen hauptsächlich auf Gesprächen mit bulgarischen Geheimagenten beruhen. Anfang der Siebzigerjahre sollen sie stattgefunden haben.

In einer Zeit also, in der Kristeva seit sechs Jahren nicht mehr in ihrer Heimat Bulgarien lebte, sondern in Frankreich. Geboren mitten im Zweiten Weltkrieg in einer bulgarischen Kleinstadt, hatte die von Literatur, Sprache und Philosophie Begeisterte ein Promotionsstipendium erhalten, das es ihr erlaubte, nach Paris auszureisen: und zwar für eine Arbeit über den Nouveau Roman. Beruflich hatte sie sich davor als Journalistin für eine KP-Zeitung etabliert. Pikantes Detail: Vladimir Kostov, ihr ehemaliger Chefredakteur, taucht nun in den Akten als Verbindungsmann auf, der seinen Schützling in Paris auf die Spitzelarbeit vorbereitet haben soll. Er selbst war Korrespondent einer bulgarischen Zeitung in Paris geworden.

Frankreich wurde Kristevas neue Heimat, auch geistig. Sie begeisterte sich für den aufkommenden Poststrukturalismus, freundete sich mit dessen Wegbereiter Roland Barthes an, verkehrte mit den Philosophen Michael Foucault und Jacques Derrida.

Geprägt wurde sie außerdem von einer weiteren prägenden Figur des Poststrukturalismus, dem Psychoanalytiker Jacques Lacan. In ihren Arbeiten verband Kristeva Linguistik, Literaturwissenschaft, Psychoanalyse und Philosophie. Gern wird sie, die viel über Schriftstellerinnen – etwa Hannah Arendt – publiziert hat, auch als postmoderne Feministin bezeichnet: obwohl sie das Attribut „feministisch“ selbst zurückweist und mit ihrer Betonung der natürlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau vielen Feministinnen ein Dorn im Auge ist.

Eine säumige Agentin

Als junge Stipendiatin soll Kristeva also als Agentin Sabina aktiv gewesen sein. Ja, mehr noch: Den Akten zufolge soll ihre Zusammenarbeit mit den bulgarischen Behörden schon bei ihrer Ankunft in Frankreich vereinbart gewesen sein. Allerdings scheinen sich, glaubt man den Akten, die Hoffnungen der Geheimdienstler auf die bald prominente Kristeva nicht erfüllt zu haben. Darin steht, die Agentin sei immer wieder mit schlechten Entschuldigungen vereinbarten Treffen fern geblieben.

Politische Kontroversen um Kristeva sind keineswegs neu. Eine besonders heftige entbrannte, als die damals 33-Jährige 1974 – also ungefähr in der Zeit, von der auch die angebliche Akte handelt – nach einer China-Reise ein Loblied auf die Befreiung der Frau durch Mao Tse-tung veröffentlichte. In „Von den Chinesinnen“ rühmt sie diesen dafür, „die ewige Geschlechterfrage“ gelöst zu haben. Die blutige Kulturrevolution war noch in Gang, neigte sich allmählich dem Ende zu. Sie habe keine Gewalt wahrgenommen, bemerkte Kristeva dazu.

Intrige des russischen Geheimdienstes?

Die China-Reise hatte sie mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Philippe Sollers unternommen. Ihn hatte sie als Mitbegründer der Zeitschrift „Tel Quel“ kennengelernt, einer Ideenschmiede der französischen Poststrukturalisten. Sollers, heute 81, verteidigt seine Frau nun auch öffentlich. Zuletzt stellte er in einem Beitrag in „La Règle du Jeu“ (dem Magazin des Philosophen und Publizisten Bernard-Henri Lévy) die Affäre sogar als Intrige des russischen Geheimdienstes dar: „Die Leichtgläubigkeit der Linken in Bezug auf die ,Archive‘ von Putins Polizei ist schwindelerregend.“

Roland Barthes schrieb einmal über seine Freundin: „Julia Kristeva ändert den Platz der Dinge: Sie zerstört immer das letzte Vorurteil, dessen man sich sicher zu sein glaubte, mit dem man sich brüsten konnte.“ Wer weiß, was im Fall Kristeva-Sabina noch alles kommen wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2018)

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