Familie ist nichts für Feiglinge

Eine der hundert Zeichnungen aus dem Buch „Hundert“ von Heike Faller und Valerio Vidali. Diese zeigt das Lebensalter 48 und eine Großfamilie, die um einen Tisch sitzt.
Eine der hundert Zeichnungen aus dem Buch „Hundert“ von Heike Faller und Valerio Vidali. Diese zeigt das Lebensalter 48 und eine Großfamilie, die um einen Tisch sitzt.(c) Heike Faller/Valerio Vidali/Kein & Aber
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Menschliche Beziehungen sind der Stoff, aus dem die besten Romane gemacht sind. Sie erzählen vom Anfang des Lebens, der Mitte und dem Ende. Mit lachenden und weinenden Augen, voller Mut und ohne jede Hoffnung. Lesestoff mit viel Familienbezug.

Das wohl schönste und berührendste Buch des Jahres braucht kaum Worte, um alles zu sagen, was zu dem Thema zu sagen ist: „Hundert – Was du im Leben lernen wirst“ von Heike Faller ist ein Bilderbuch, in dem sich alle Generationen wiederfinden: von dem Kind, das den ersten Purzelbaum schlägt, bis zum Jugendlichen, dem endlich Kaffee schmeckt und dem Paar, das sich zuerst findet, um sich entweder wieder zu verlieren oder auch im Alter noch gemeinsam Zwetschkenmarmelade einzukochen.

„Hundert“ ist allerdings die Ausnahme. Denn normalerweise sind menschliche Beziehungen im Allgemeinen und der Komplex Familie im Besonderen der Stoff, aus dem mit vielen schönen Worten die besten Romane gemacht sind. Die Dynamik zwischen alt und jung, zwischen Mutter und Tochter, zwischen Mann und Frau erzählt die einmaligsten Geschichten. Das gilt auch für 2018.

Unter den Romanen zum Thema Familie ragt Celeste Ngs „Kleine Feuer überall“ heraus. Im idyllischen US-Vorort Shaker Heights brechen überall kleine Feuer aus und legen das perfekte Leben der Bewohner in Schutt und Asche. Nicht nur im übertragenen Sinn. Auf den amerikanischen Traum hat es auch Lionel Shriver abgesehen. Im Jahr 2029 verliert der Mandible-Clan alles und muss fortan in einem Park überleben. „Eine amerikanische Familie“zeigt voller Komik und Einfühlungsvermögen, wie auch das gelingen kann.

Von spanischen Autoren stammen zwei viel beachtete Familienromane: Fernando Arumburu rollt in „Patria“ die Geschichte zweier Familien auf, die einst befreundet waren, später aber im Kampf um die baskische Unabhängigkeit auf verschiedenen Seiten landeten. Jaume Cabré erzählt in „Eine bessere Zeit“ vom Aufbegehren eines jungen Mannes gegen seine reiche Unternehmerfamilie in Spanien.

Darum, was Großeltern ihren Enkeln weitergeben können, geht es unter anderem in „Wenn Martha tanzt“ von Tom Saller. Ein junger Mann aus New York sucht nach den Spuren seiner Großmutter, die in der Bauhaus-Bewegung aktiv war und ein wertvolles Notizbuch besaß. Der amerikanische Erfolgsautor Michael Chabon wiederum setzt in „Moonglow“ einen jungen Mann an das Bett des sterbenden Großvaters und lässt diesen fast ein Jahrhundert überraschendes Leben erzählen, unter anderem, wie er den umstrittenen Raketenbauer Wernher von Braun jagte. Der finnische Autor Tommi Kinnunen spannt in „Wege, die sich kreuzen“ eine Familientragödie über das ganze 20. Jahrhundert.

Überraschungen gibt es auch in einem der herausragenden Romane um Familie im weitesten Sinn: „Oxenberg & Bernstein“ des rumänischen Autors Catalin Mihuleac schlägt den Bogen vom New York der Gegenwart zurück zur Judenverfolgung in Rumänien in den 1940er-Jahren.

Durch ein zeitgenössisches Krisengebiet führt der berührende Roman „Der Tod ist ein mühseliges Geschäft“ des syrischen Autors Khaled Khalifa. Drei Geschwister wollen den letzten Wunsch ihres toten Vaters erfüllen und ihn in seinem Heimatdorf bestatten. Was in Friedenszeiten kein Problem wäre, wird im vom Krieg zerrütteten Syrien zu einer Belastungsprobe mit skurrilem Einschlag.

Liebe, vor allem die unglückliche, war schon immer Stoff vieler Romane. Und nie gehen mehr Beziehungen auseinander als im Urlaub. So treffen einander die Kunst und das Leben mitunter im Liegestuhl unterm Apfelbaum. 2018 war in der Literatur ein besonders fruchtbares Jahr rund um dieses zwischenmenschliche Minenfeld. Dazu zählt Tanja Paars „Die Unversehrten“, in dem moderne Lebensentwürfe archaischen Bedürfnissen wie Liebe und Hass gegenübergestellt werden. Der Finne Philip Teir zeigt in „So also endet die Welt“ anhand eines Urlaubs in einem Sommerhaus am Meer die Risse, die in einer scheinbar ganz normalen Familie sichtbar werden.

Perfekt – zumindest auf den ersten Blick – scheinen auch die Protagonisten in Maile Meloys „Bewahren Sie Ruhe“. Während einer Kreuzfahrt verschwinden die Kinder dreier Paare. Diese Katastrophe legt die Bruchlinien in den Beziehungen offen.

Die Rache der Kinder an den Eltern, die sie verlassen, zeigt Natalie Buchholz in „Der rote Swimmingpool“. Darin zerbricht eine Vorzeigefamilie, der halbwüchsige Sohn bleibt ratlos zurück und trifft eine verhängnisvolle Entscheidung.

Die mysteriöse Dynamik, die Paare auch nach schweren Krisen zusammenbleiben lässt, arbeitet Domenico Starnone in „Auf immer verbunden“auf. Vanda und Aldo stehen nach vielen überstandenen Belastungsproben plötzlich wieder vor der Frage nach dem Sinn ihrer gemeinsamen Existenz.

Die Frage, ob das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern oder zwischen Vätern und Söhnen das komplexere ist, bleibt unbeantwortet, dafür entspringen daraus viele gute Bücher. Zum Beispiel Nickolas Butlers „Die Herzen der Männer“ über Nelson aus dem rauen Wisconsin, der für seinen Vater solch eine Enttäuschung ist. Oder „Was nie geschehen ist“ von Nadja Spiegelman über die verstrickten Verhältnisse von Großmutter, Mutter und Tochter. Deborah Levy lässt in „Heiße Milch“ eine Tochter verzweifelt um die Loslösung von ihrer dominanten Mutter kämpfen, die sie mit allen möglichen Tricks an sich zu binden versucht.

Das Gegenteil von Familie behandelt Lisa Wingates Roman „Libellenschwestern“. Beruhend auf einer wahren Geschichte zeigt das Buch, wie weit zu gehen Menschen bereit sind, um eine Familie zu haben. Und wie leicht skrupellose Menschen damit Geld verdienen können.

Mutter sein, ja oder Nein?

Betrachtungen  zur modernen Mutterschaft.

So gut wie jede Frau stellt sich ab Anfang, Mitte 30 die Frage, ob sie Mutter werden will. Und vor allem, ob sie es wirklich will oder nur einem gesellschaftlichen Ideal entsprechen will. Zwei Autorinnen nähern sich dieser Frage aktuell von zwei konträren Seiten. Es empfiehlt sich daher, ihre beiden Bücher parallel oder hintereinander zu lesen: Die deutsche Journalistin und Autorin Antonia Baum ist Anfang 30 Mutter geworden und erzählt in „Stillleben“ (Piper), wie schwer sie sich, obwohl sie es wirklich wollte, damit tat, ihre Freiheit aufzugeben. Mit der Schwangerschaft erlebt sie erstmals, dass Gleichberechtigung zwischen ihr und ihrem Partner ins Wanken gerät. Baum jammert nie, sie sieht sich nicht als Opfer, aber sie macht sich Gedanken über unsere Gesellschaft und den Druck, den viele beim Thema Elternschaft empfinden.

Die kanadische Autorin Sheila Heti wiederum hat sich entschieden, keine Kinder zu bekommen. In ihrem bisher nur auf Englisch erschienenen Buch „Motherhood“(Harvill Secker, 304 S.) nimmt sie uns auf ihre dreijährige Entscheidungsreise mit, die sie zwischen 37 und 40 durchlebt hat. Es ist ein sehr ehrlicher Monolog, den Heti da mit sich geführt hat. Und ihre Entscheidung hat nichts Verbittertes, sie ist sogar eine Chance. Wer sich gegen Kinder entscheidet, werde in gewisser Weise sein eigenes Kind: „Man fängt noch mal an, bei sich selbst“, schreibt sie.

Einer anderen, nicht nur selbst gewählten Mutterschaft widmet sich „Falter“-Journalistin Barbara Toth: In „Stiefmütter“ (Residenz, 130 S.) schreibt sie, selbst zweifache Mutter und Stiefmutter, ungeschönt über das Leben mit Kindern, die nicht die eigenen sind.

Meine berühmten Eltern

Vom Aufwachsen in besonderen Familien.

Grischka Voss hat innerhalb weniger Wochen Vater Gert, den berühmten Schauspieler, und Mutter Ursula, seine mit ihm symbiotisch durch das Leben gehende Frau, verloren. Ihre Trauer verarbeitete sie auch durch das Schreiben an ihrem ersten Buch, „Wer nicht kämpft, hat schon verloren“. Daraus ist ein sehr ehrliches, schonungsloses Protokoll ihrer Kindheit in einem hochgradig kreativen und geselligen Haushalt geworden. Auch für Menschen, die Gert Voss und seine Tochter bisher noch nicht kannten, ein Lesegenuss – für die anderen sowieso.

Die norwegische Schriftstellerin Linn Ullmannerzählt nicht nur die Geschichte ihrer Beziehung zum berühmten und alten Vater, dem Regisseur Ingmar Bergmann, sondern auch jene der kurzen Liebe ihrer Eltern. Kein einziges Mal kommt der Name ihres Vaters oder ihrer Mutter, der Schauspielerin Liv Ullmann, in der Erzählung „Die Unruhigen“ vor, aber man weiß, wer gemeint ist. Ullmann war das neunte Kind Bergmanns, und sie schreibt einmal witzig, einmal brutal, dann wieder zärtlich über ihren Vater.

Weniger beschaulich ist das Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen. Geschichte einer Entführung“ von Johann Scheerer. Sein Vater, der Unternehmer Jan Philipp Reemtsma, wurde 1996 Opfer einer Entführung und war 33 Tage in Geiselhaft. Scheerer war 14, als sich sein Leben innerhalb kürzester Zeit völlig veränderte.

Lesbar für Jung und Alt

Bücher, die mehr als eine Generation lesen kann.

Beim Lesen sind die Alten den Jungen gegenüber eindeutig im Vorteil. Denn während es viele Bücher gibt, die für ein junges Publikum geschrieben wurden, durchaus aber auch von den „Älteren“ gern gelesen werden, dürfte viele junge Menschen das literarische Altenteil eher weniger interessieren.

Was schade ist, denn da gibt es teilweise köstliches Lesefutter. Eines davon ist „Das alte Böse“ von Nicholas Searle – ein wendungsreicher Roman über zwei durchtriebene Rentner, die einander nichts schuldig bleiben. Etwas ernster geht es bei David Szalay zu, der in „Was ein Mann ist“ der Frage nachgeht, wieso man plötzlich weiß, dass man nicht mehr jung ist, aber nicht, wie man an diesen Punkt gekommen ist. Richard Russo stellt in „Immergleiche Wege“ seinen Protagonisten – durchwegs Akademiker in ihren 50ern – die Frage, ob sie das Leben gelebt haben, das sie eigentlich leben wollten.

Mit dieser Frage setzen sich auch die jungen Protagonisten in den Romanen von John Green auseinander, wenn auch in altersadäquater Form. Berühmt geworden mit „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ hetzt Green in „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“ die 16-jährige Aza auf die Spur eines verschwundenen Millionärs. Um die Jagd aufzunehmen, muss Aza zuerst allerdings ihre ureigenen Ängste in den Griff kriegen. Um diese geht es auch in „Dumplin'“ von Julie Murphy. Willowdean („Will“, 16) ist die Dicke vom Dienst, und es ist ihr egal. Bis sie sich verliebt. Doch dann will sie allen beweisen, dass die Kleidergröße für das Glück keine Rolle spielt. Mit anderen Worten: ein Buch, das für Eltern eventuell genauso gut geeignet sein könnte wie für ihre Kinder.

Die potente Frau

Nach MeToo fordert eine Streitschrift ein Umdenken – der Frauen.

Viel ist seit Herbst über die MeToo-Debatte diskutiert und in Zeitungen geschrieben worden, aber bisher ist kaum ein Buch zum Thema erschienen. Die deutsche Philosophin Svenja Flaßpöhler ändert das. Sie legt dieser Tage die schmale Streitschrift „Die potente Frau“ (Ullstein Verlag, 50 Seiten) vor, in der sie andere Schlüsse aus der Debatte zieht als viele KommentatorInnen vor ihr – und die meisten Feministinnen, wie Flaßpöhler betont. Sie fordert eine Rückkehr, oder mehr noch: erstmals ein selbstbewusstes Eintreten „einer neuen Weiblichkeit“. Frauen hätten sich in der MeToo-Diskussion freiwillig zum Opfer machen lassen. Zum schwachen Subjekt, das sich nicht gegen das männliche Begehren wehren kann. Dies wiederhole erst wieder patriarchale Denkmuster.
Sie plädiert daher, Frauen sollten sich aus dieser Opferrolle befreien. Aufhören, Männer an den Pranger zu stellen und sich damit „jener Machtmethode bedienen, unter der die Frauen selbst Jahrhunderte lang gelitten haben.“ Flaßpöhler will übergriffige Männer keineswegs verteidigen, auch verneint sie nicht, dass wir immer noch „weit entfernt“ sind „von einer Gesellschaft, in der Macht gerecht verteilt“ ist. Aber Frauen sollten endlich begreifen, dass sie die Wirklichkeit mitgestalten. Und aufhören, sich schwächer zu machen als sie sind.

Die Bücher:

Tom Saller: „Wenn Martha tanzt“, List, 288 S., 20,60 Euro.

Celeste Ng: „Kleine Feuer überall“, DTV,
384 S., 22,70 Euro.

Domenico Starnone: „Auf immer verbunden“, DVA,
176 S., 18,50 Euro.

Antonia Baum:
„Stillleben“, Piper,
224 S., 20,60 Euro.

Ratgeber:

Grischka Voss:
„Wer nicht kämpft, hat schon verloren“, Amalthea, 256 S.

Linn Ullmann:
„Die Unruhigen“,
Luchterhand, 412 S.

Johann Scheerer:
„Wir sind dann wohl die Angehörigen“,
Piper, 240 S.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2018)

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