Buch-Tipps: Neues und Altbewährtes für das Bücherregal

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Von alten Trollen und poetischen Französinnen: Die "Presse"-Redaktion empfiehlt neu aufgelegte und historische Lektüre.

Die "Presse"-Redakteure Bettina Steiner, Oliver Pink und Günther Haller geben Buch-Tipps für den Lesesommer: 

Endlich neu aufgelegt

2016 kam der auf einem unfertigen Manuskript Baldwins beruhende Dokumentarfilm „I Am Not Your Negro“ in die Kinos, zwei Jahre später liegt die Neuübersetzung seines ersten Romans „Von dieser Welt“ (DTV, 220 Seiten, 22 Euro) frisch in den Buchhandlungen – und liefert einen Einblick, wie Baldwin (1924–1987) zu dem Schriftsteller wurde, der er war: sensibel und wuchtig, direkt und doch poetisch. „Von dieser Welt“ erzählt autobiografisch von einem Buben, der als Sohn eines schwarzen Predigers aufwächst – die Familie ist arm, der Bruder rebelliert gegen die zerstörerische Autorität des Vaters, er selbst weicht aus, in die Fiktion. Bücher. Filme. Verbotenes. Eine zwischendurch fast ekstatisch erzählte Geschichte von Verstrickung, Gewalt, katholischem Extremismus, von Entrückung und Flucht.

Der Wagenbach-Verlag erinnert heuer an zwei französischsprachige Schriftstellerinnen, eine sehr bekannt, eine fast vergessen: Françoise Sagan hat nicht nur „Bonjour Tristesse“ geschrieben, sondern auch „Lieben Sie Brahms . . .“, ein keckes, leichtes Buch. Madeleine Bourdouxhe wurde 1906 in Brüssel geboren und wuchs in Paris auf.

Verlag Klaus Wagenbach

„Auf der Suche nach Marie“ (192 Seiten, 12,99 Euro) ist ein zarter, fast schwebender Roman über eine junge Ehefrau, die ihren Mann abgöttisch liebt – bis sie sich im Urlaub auf den ersten Blick in einen anderen verliebt: Es entspinnt sich, was man als Amour fou bezeichnen könnte – nur dass Bourdouxhe sie nicht als Verrücktheit schildert. Wie selbstverständlich lässt Marie sich darauf ein.

Der Verlag „Das vergessene Buch“ hat im letzten Jahr gleich zwei Romane der Wiener Autorin Marta Karlweis herausgebracht: „Das Gastmahl auf Dubrowitza“ (210 Seiten, 22 Euro) erschien 1921 und schildert mit viel Lust am absurden Detail die Fahrt Katharina der Großen durch ihr potemkinsch verkleidetes Reich. „Schwindel“ (240 Seiten, 22 Euro) ist ein ungemein expressiver, immer wieder spöttischer, scharfsichtiger Roman über den Verfall des Wiener Kleinbürgertums, geschildert anhand des Schicksals einer Familie. Karlweis mag diese Familie – doch sie schaut genau hin. Eine Entdeckung. (Bettina Steiner)

Aufstieg und Fall einer Kultur

Jesus hat nie gelebt. Meint Michel Onfray. Es gebe keine validen Quellen dafür. Das Christentum sei mehr oder weniger eine Erfindung jenes Mannes, der erst Saulus, dann Paulus hieß. Und Kaiser Konstantin habe aus der Sekte dann eine politische Macht gemacht.

Der französische Philosoph holt nach seinem „Anti-Freud“ – die Psychoanalyse sei keine Wissenschaft, sondern eine Philosophie – die nächsten (Säulen-)Heiligen vom Sockel. In „Niedergang“ schildert er die Entwicklung des Christentums. Das Buch hat seine Längen – wenn es sich detailreich um Streitfragen der diversen christlichen Fraktionen um Hostien und Heiligen Geist dreht –, es gewinnt aber an Schwung, wo der Niedergang einsetzt. Onfray macht neben anderen (Aufklärung, Reformation, Machiavelli, Rousseau) zwei Faktoren dafür verantwortlich: die Wiederentdeckung des Philosophen Epikur und das Erdbeben von Lissabon. Danach war Gott angezählt. Die Französische Revolution gab ihm den Rest. Wobei Onfray auch mit den blutrünstigen „linken“ Revolutionären abrechnet, den gutmütigen Ludwig XVI. vor ihnen in Schutz nimmt.

Knaus Verlag

Der Atheist Onfray hat letztlich auch Sympathien für das christliche Abendland – vor allem weil nichts Besseres (wie der Nihilismus) nachkommt. Und vor der Tür steht nun der jahrhundertelange Gegenspieler, der Islam, dessen Geschichte Onfray parallel erzählt. Und etwa mit dem Mythos von „al-Andalus“ aufräumt. Hier sei es keineswegs so harmonisch zugegangen. (Oliver Pink)

Der Wallraff von 1900

Die inoffizielle Realität der k.u.k. Residenzstadt Wien in der Zeit um 1900 sah anders aus, als wir es aus Salondarstellungen und Klimt-Bildern kennen. Dem Journalisten Max Winter verdanken wir einen Einblick in die tristen Lebensverhältnisse der Obdachlosen und Außenseiter. Winter ließ sich, als Sandler verkleidet, ins Polizeigefängnis werfen, arbeitete als Kulissenschieber im Theater, ging in die Fabriken, in die Männerheime, von „ganz unten“, um ein Buch des gut 80 Jahre später schreibenden Deutschen Günter Wallraff zu zitieren, wollte er das Leben der Deklassierten beschreiben. Seine Artikel wurden Expeditionen in unbekannte Welten.

Picus Verlag

Max Winter arbeitete für die „Arbeiter-Zeitung“, war für das „Rote Wien“ politisch tätig, doch alles andere als ein Schreibtischrevoluzzer. Er schuf gleichsam im Alleingang die Form der Sozialreportage, die durch die Schilderung der menschlichen Lebensumstände das ganze unmenschliche Sozialsystem an den Pranger stellte. So stieg er mit den Kanalsandlern ins Wiener Kanalnetz hinab und führte dort mit ihnen den ständigen Kampf gegen die Wanzen und Läuse, er schlief mit den Obdachlosen im Winter im Freien. Seine Reportagen erfüllen die qualitativen Standards eines guten Journalisten, er arbeitete auch mit Akten und Statistiken und untermauerte damit seine unkonventionellen Vor-Ort-Recherchen. Großartig, dass der Picus-Verlag nun unter dem Titel „Expeditionen ins dunkelste Wien“ eine umfangreiche Sammlung der Artikel von Max Winter vorlegt. Eine Empfehlung! (Günther Haller)

Tausend Jahre Trolle

Hat ein Phänomen Konjunktur, ist es oft nicht wiederzuerkennen, weil es sich von seinen Ursprüngen entfernt. So geht es uns mit den Trollen. Die unheimlichen Kobolde aus der alten Literatur Nordeuropas mutieren zu Gummifigürchen mit neonfarbenen Haaren fürs Kinderzimmer, tauchen in skandinavischen Souvenirläden auf und sind zugleich riesige Kampfmaschinen etwa in der Verfilmung von Tolkiens „Herr der Ringe“. Im Internet sind sie die provokanten Störenfriede, die sich mit zynischen und beleidigenden Kommentaren unbeliebt machen.

Böhlau Verlag

Sehr viel auf einmal das, findet auch der Mediävist und Skandinavist Rudolf Simek, und er gesteht seinen Frust über die zunehmende Verniedlichung des Trolls. Denn er kennt die Quellen wie sonst keiner, er ist bereits 2015 mit einem Buch zum Thema „Monster im Mittelalter“ hervorgetreten, nun mit „Trolle“. Im Trollwesen der Gegenwart sieht er eine Pervertierung des ursprünglichen skandinavischen Konzepts von Trollen.
Ein Vierteljahrhundert hat er sich damit beschäftigt und breitet nun sein Wissen für uns aus, von den ältesten Literaturstellen vor 1000 Jahren in Island bis zur Gegenwart. Was den Trollen gemein ist: Sie sind in der Regel gefährlich und böse, Trollmänner saufen und streiten, Trollfrauen sind geradezu abstoßend hässlich. Dennoch muss sie der Held in den Erzählungen küssen. Sie verkörpern eine schrecklich-ungehobelte Gegenwelt. So benimmt man sich nicht, liebe Kinder! Das darzulegen war wohl die Absicht vieler Trollgeschichten.

Haben die Menschen an die Trolle geglaubt? Ja und nein, meint Simek, man machte sich darüber lustig und hatte zugleich Angst davor. Und in der Gegenwart? Wenn der Troll-Boom ein Zeichen dafür ist, dass die Menschen die wissenschaftliche Erklärung der Welt nicht mehr nachvollziehen wollen oder können, wird es bedenklich. (Günther Haller)

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