„Großartig, dass wir in der EU sind“

Arno Geiger warnte in Brüssel vor der neuerdings wieder modischen Verharmlosung der Nazizeit und ihrer Sprache, die „zu Recht gänzlich verurteilt“ sei.

Auf Einladung des Kulturforums der österreichischen Botschaft war Arno Geiger am Mittwochabend in Brüssel zu Gast, um über seinen jüngsten Roman, „Unter der Drachenwand“, zu sprechen, diese meisterhafte Erzählung vom Wiener Wehrmachtssoldaten Veit Kolbe, der 1944 am Mondsee, im Schatten des titelgebenden Berges, seine Verwundung auskuriert und sich nach und nach dessen bewusst wird, dass die Hitlerei sein Leben zerstört hat.

Seit dem Jahr 2005 habe dieser Stoff ihn beschäftigt, sagte Geiger. Auf einem Flohmarkt hat er Briefe des Kinderverschickungslagers Schwarzindien erworben, das hat eine zentrale Rolle in dem Roman inne. Bewusst habe er auf wissenschaftliche Sekundärliteratur über den Zweiten Weltkrieg verzichtet, stattdessen Zehntausende Seiten privater Tagebücher und Briefe studiert. „Die Leute haben damals geschrieben, um Kontakt zu halten, heute wird das allerorten zu Geld gemacht, man kann es kaufen.“ So erwarb sich Geiger jene bemerkenswerte Kenntnis der Details des Lebens in Österreich im letzten Weltkriegsjahr; man denke beispielsweise an die Beschreibung, wie die Wiener Straßenbahnen damals jede zweite Haltestelle ausließen, um Strom fürs Bremsen und Beschleunigen zu sparen.

„Hitler“ schreibt man nicht

Die private Korrespondenz unbekannter Menschen habe ihm auch dabei geholfen, ihre Alltagssprache zu verwenden – wenn auch mit Einschränkungen: „Ich erzähle aus der Zeit heraus, aber ich wollte mich der Sprache der Zeit nicht anbiedern. Sie ist zu Recht gänzlich verurteilt, nicht mehr zu gebrauchen, verdorben für alle Zeiten.“ Darum erwähne er Hitler nie namentlich, sondern stets nur als „F.“ oder „H.“: „Gewisse Wörter spricht man nicht aus. Das ist vielleicht meine katholische Prägung.“

1944 sei in seiner Sicht „das Jahr des Umdenkens“ für viele Deutsche und Österreicher gewesen: „Der Mensch ist fähig zum Umdenken, nur kommt es oft zu spät.“ Geiger führte als Beispiel die Widerstandsgruppe um Graf Stauffenberg an: „Das waren ja keine geborenen Widerstandskämpfer, sondern deutschnational denkende Kriegsherren, die merkten, dass sie sich mit dem Teufel ins Bett gelegt hatten, und da herauswollten. Bloß kommt man leichter in des Teufels Bett als aus ihm heraus.“

Wie erklärt Geiger sich das Erstarken autoritärer, bisweilen offen faschistoider Politik im Europa des Jahres 2018, die Verklärung der Nazizeit? „Wer sich heute positiv auf die nationalsozialistische Zeit bezieht, ist gemeingefährlich dumm oder gemeingefährlich im engeren Sinn.“ In den sieben Jahrzehnten seit Kriegsende sei „vieles emotional abgeschliffen worden, etwa das Verständnis dafür, warum Menschen vor Krieg flüchten“. Insofern erinnere ihn sein Besuch in Brüssel daran, was heute auf dem Spiel steht: „Weil ich Historiker bin, weiß ich, wie großartig es ist, dass wir in der EU sind.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.12.2018)

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