Mary Lynn Bracht: Die stille Hölle der „Trostfrauen“

Mary Lynn Bracht gab die Ausbildung zur Kampfpilotin bei der US-Armee auf, um Schriftstellerin zu werden.
Mary Lynn Bracht gab die Ausbildung zur Kampfpilotin bei der US-Armee auf, um Schriftstellerin zu werden.Tim Hall
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Mary Lynn Bracht erzählt in „Und über mir das Meer“ eindrücklich von einem dunklen Kapitel der Geschichte: Von den koreanischen Zwangsprostituierten des japanischen Militärs.

Hana ist 16 Jahre alt, als Korporal Marimoto am Strand ihres koreanischen Heimatdorfes auftaucht. „Sie dürfen euch niemals zu Gesicht bekommen! Und lass dich vor allem nicht alleine von einem erwischen“, so hatte die Mutter Hana und ihre kleine Schwester, Emi, immer vor den japanischen Besatzungssoldaten gewarnt. Doch an diesem heißen Sommertag gibt es für Hana kein Entkommen. Sie weiß, dass sie ihre kleine Schwester nur dann retten kann, wenn sie den Soldaten von dem Felsvorsprung weglockt, unter dem sich Emi versteckt. Hanas Schicksal ist damit besiegelt: Korporal Marimoto verschleppt das Mädchen und zwingt es, in einem Bordell als Prostituierte den japanischen Besatzungssoldaten zu Diensten zu sein. Und Emi bleibt zurück auf der Insel Jeju – mit ihren Schuldgefühlen und ohne ihre Schwester.

Mit der Geschichte der jungen Hana macht die Autorin Mary Lynn Bracht in ihrem Erstlingsroman auf ein reales Kapitel der Geschichte aufmerksam: Bis zu 200.000 Frauen, hauptsächlich Koreanerinnen, wurden von 1931 an bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs vom japanischen Militär zur Prostitution gezwungen. „Trostfrauen“ wurden sie genannt und sollten die Moral der Armee Japans heben. Als Sexsklavinnen gingen die Frauen durch die Hölle, unfähig über Erlebtes zu sprechen. Erst Anfang der 1990er-Jahre brach das Tabu auf: Jeden Mittwoch protestierten ehemalige Zwangsprostituierte in Seoul vor der japanischen Botschaft, jahrzehntelang. Sie begannen davon zu erzählen, was so lange totgeschwiegen worden war, auch in den eigenen Familien. Noch immer belastet dieses Thema die Beziehungen zwischen Südkorea und Japan, welches sich lange weigerte eine Entschuldigung auszusprechen. Ende 2015 schlossen die beiden Staaten ein Abkommen zur Entschädigung der Betroffenen ab – zu diesem Zeitpunkt lebten nur noch 46 der Frauen.

Schonungslos erzählt die Autorin auf 384 Seiten Hanas und Emis Geschichte. Sie schreckt nicht vor der Beschreibung der Vergewaltigungen und Demütigungen durch die Soldaten zurück. Keine leichte Kost. Trotz aller Brutalität findet Mary Lynn Bracht eine besondere Sprache, die den Opfern gerecht wird. Hana ist eine „Haenyeo“, eine stolze Frau des Meeres, die genauso wie ihre Mutter nach Seeigeln und Abalonen taucht, die sie am Markt verkauft. Sie kann die Luft anhalten und bis 162 zählen. So blendet sie die Misshandlungen durch die Soldaten aus und entkommt der Enge ihrer Zelle im Bordell. Wenn sie die Luft anhält, kann sie die alte Hana sein, jene Hana, die im Meer taucht und glücklich ist.


Warum habe ich überlebt? Die Frage der Schuld ist omnipräsent. Emi, die kleine Schwester, kann bis kurz vor ihrem Tod nicht mit ihren Kindern darüber sprechen, was damals an jenem Sommertag am Strand passiert ist. Die Schuldgefühle sind so stark, dass Emi kaum Luft zum Atmen bleibt. Warum habe ich überlebt? Die Suche nach ihrer verschollenen Schwester treibt sie an. Und die Suche nach Vergebung.

Abwechselnd erzählt die Autorin von den beiden Schwestern: Von Hanas Kampf ums Überleben während des Krieges und von Emi als alter Frau, die 2011 zu den Demonstrationen nach Seoul fährt und nach jemandem sucht, der von Hanas Verbleib weiß. Geschickt springt Mary Lynn Bracht zwischen den einzelnen Zeitebenen hin und her, in klarer, dennoch lyrischer Sprache nimmt sie die Leser mit in die Abgründe des menschlichen Daseins. Bracht selbst hat koreanische Wurzeln, wuchs in Texas auf und lebt heute in London. 2002 besuchte sie das Dorf in Südkorea, in dem ihre Mutter ihre Kindheit verbrachte, und wurde erstmals auf das Thema aufmerksam.

„Und über mir das Meer“, in 14 Sprachen erschienen (auch auf Koreanisch, aber nicht auf Japanisch), erzählt fesselnd ein bei uns nicht allzu bekanntes Kapitel der Geschichte. Selten schafft es ein Roman, so zu berühren und so lange nachzuhallen.

Neu Erschienen

Mary Lynn Bracht
„Und über mir das Meer“

Übersetzt von Elke Link
Limes Verlag
284 Seiten
20,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2019)

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