Elfriede Jelinek über die Mindestsicherung: "Die Armen zählen nicht mehr"

Elfriede Jelinek.
Elfriede Jelinek.REUTERS
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Die Nobelpreisträgerin schreibt gegen Sozialkürzungen an: "Mit dieser neuen Mindestsicherung, die zumindest das Wort Sicherung sofort streichen sollte, sind auch die Menschen abgeschafft".

Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek unterstützt die Protestinitiative von SOS Mitmensch gegen Sozialkürzungen. In einem auf der Website der Initiative veröffentlichten Text nimmt die Autorin nun zur geplanten Kürzung der Mindestsicherung Stellung.

"Diese Regierung führt vor, wie wir die Armen zum Verschwinden bringen können, denn sie zählen nicht mehr, obwohl sie doch ständig gezählt werden. Aus den Augen, aus dem Sinn. Verschwunden. Für uns und für sie selbst, denn mit dieser neuen Mindestsicherung, die zumindest das Wort Sicherung sofort streichen sollte, sind auch die Menschen abgeschafft, weil sie, ständig über dem Abgrund hängend, nicht mehr leben können", schreibt Jelinek.

Auch zahlreiche weitere Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur unterstützen die Protestinitiative, darunter Schauspieler und Regisseur Karl Markovics, Schauspielerin Pia Hierzegger, Kabarettist Gerold Rudle oder Austropop-Urgestein Wolfgang Ambros.

Der gesamte Jelinek-Text auf der Seite von SOS Mitmensch:

„Es wird oft von der sozialen Hängematte gesprochen, wenn Menschen es sich angeblich auf Kosten des Staats zu gut gehen lassen und sich daher gehenlassen können. Aber eine Hängematte, zumindest die meiner Kindheit, besteht aus Schnüren, dazwischen nichts als Löcher. Und jetzt wollen sie auch noch die dünnen Seile dazwischen kappen. Es folgt das Nichts.

Das Netz wird immer schleißiger gemacht, damit es von außen immer weniger  einladend aussieht. Aber immer mehr müssen hinein, mitgehangen, mitgefangen, mit Ausländern, mit Fremden, die sie für uns sind. Das angebliche Wohlbehagen, mit dem sich Menschen in dieser Hängematte eingerichtet haben (während sie doch den Abgrund darunter immer gespürt haben), es war keins. Man kann kein Wohlgefühl haben, wenn die Maschen sich jederzeit öffnen können, der wacklige Boden aufgetrennt wird, und man ins Bodenlose stürzt. Das ist jetzt mit der Kürzung der Mindestsicherung geplant, punktgenau als Ausgangspunkt für diese sogenannte Sozialstaatsreform.

Doch je mehr Daten erhoben werden, desto weniger können sich die dazugehörigen Menschen, die eben nicht dazugehören sollen, aus ihrer Armut erheben, denn diese Regierung steht den Daten vollkommen gleichgültig gegenüber, es könnten auch ganz andre Daten sein, mehr oder weniger, sie werden ignoriert. Hauptsache, es wird den von ihnen Erfaßten, die man gar nicht wirklich erfassen will, die Luft abgeschnürt. Bisher haben die Löcher noch halbwegs zusammengehalten, ab und zu geflickt, aber es ging noch irgendwie. Jetzt aber sollen die Schwächsten uns aus den Augen geschafft werden, wie lebende Tote, sie sind da, werden aber nicht mehr zur Kenntnis genommen. Diese Regierung führt vor, wie wir die Armen zum Verschwinden bringen können, denn sie zählen nicht mehr, obwohl sie doch ständig gezählt werden. Aus den Augen, aus dem Sinn. Verschwunden. Für uns und für sie selbst, denn mit dieser neuen Mindestsicherung, die zumindest das Wort Sicherung sofort streichen sollte, sind auch die Menschen abgeschafft, weil sie, ständig über dem Abgrund hängend, nicht mehr leben können. Alles mindestens neu, wenn nicht zumindest neuer, mindestens.“

(APA/red.)

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