"Blinde Liebe": Die Affäre eines Klavierstimmers

Der schottische Schriftsteller William Boyd übt sich diesmal in der Kunst des indirekten Blicks.
Der schottische Schriftsteller William Boyd übt sich diesmal in der Kunst des indirekten Blicks.(c) Trevor Leighton
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Fin de Siècle zwischen Paris und St. Petersburg: In seinem jüngsten Roman erzählt William Boyd von einer heimlichen Liebe hinter dem Rücken eines berühmten Pianisten.

Was sie faszinierend finde, sagt die verwegene Tochter der reichen Mäzenin an einer Stelle zu Brodie Moncur, das sei der indirekte Blick. Der Blick „von der Seite, nicht von vorn. Nicht das Bild, das die Welt zu sehen meint, oder das Bild, das uns präsentiert wird.“ Einen solchen Blick von der Seite auf einen Künstler wirft William Boyd in seinem neuen Roman. Darin nähert sich der Leser einem ebenso virtuosen wie schwierigen Pianisten mit den Augen seines Klavierstimmers.

Ort des Geschehens ist zunächst Paris. Kein Zufall bei Boyd. „Zu bestimmten Zeiten waren bestimmte Städte der Mittelpunkt der Welt“, erklärte der schottische Bestsellerautor seine Entscheidungen einmal in einem „Presse“-Interview. Wien, Anfang des 20. Jahrhunderts, wie er es in „Eine große Zeit“ beschreibt. New York um 1950, wie in der erfundenen Biografie des abstrakten Expressionisten Nat Tate, den danach so mancher zu kennen glaubte. Oder Paris um 1890.

Hierhin wird der junge Brodie Moncur von seinem wohlwollenden Chef geschickt, um dessen unfähigem Sohn in der französischen Filiale des schottischen Klavierhauses zur Seite zu stehen. Brodie, durchaus innovativ, verfällt unter anderem auf die Idee, berühmte Pianisten zu sponsern, auch wenn es das Wort dafür noch gar nicht gibt. Sie sollen, gegen Geld, auf Channon-Pianos spielen.


Teil der Entourage. Erster Vertragspartner wird John Kilbarron, „ein wenig passé vielleicht, vor zehn, zwanzig Jahren aber einer der echten ,Klaviertiger' alter Schule“. Mit dem „irischen Liszt“ mit im Paket sind auch dessen grobschlächtiger, bedrohlicher Bruder Malachi und Lika, die russische Geliebte des Pianisten. Als Klavierstimmer wird Moncur Teil der Entourage.

Wohin die Reise in „Blinde Liebe“ geht, wird spätestens hier klar. „Die Verzückung des Brodie Moncur“ lautet der Untertitel des Romans, und hervorgerufen wird diese Verzückung natürlich nicht durch die Kunst (Kilbarron benötigt am Klavier einen Anschlag „leicht wie Seifenschaum“), sondern durch die geheimnisvolle Russin. Die Anziehung beruht auf Gegenseitigkeit. Während Kilbarron um seine zunehmend gefährdete Karriere kämpft, beginnen die zwei eine leidenschaftliche Affäre hinter seinem Rücken. Die titelgebende blinde Liebe bekommt man leider eher erzählt, als dass man sie spürt; das ist schade, ist sie doch das zentrale Motiv. Dass Lika bis zuletzt eine verschwommene Figur bleibt, ja bleiben muss – geschenkt. Boyds Schilderungen von Sehnsucht und Erotik bleiben allerdings schal.

Zum Glück funktioniert die Geschichte auch so, Boyd nimmt einen mit auf eine (Zeit-)Reise ins ausgehende 19. Jahrhundert, von Edinburgh bis nach St. Petersburg, und schließlich, nachdem das Drama in Russland eskaliert ist, auf eine Flucht entlang wärmerer Orte (der Held leidet an Tuberkulose) von Nizza und Biarritz über Triest bis auf die Andamanen.

Brodie Moncur ist ein Fieldingscher Tom Jones, der sich in einer Mischung aus Künstler-, Epochen-, Liebes- und Schelmenroman hinaus in die korrupte Welt begibt. Manches wird nur angerissen. Warum sein Vater, Pastor und tyrannischer Alkoholiker, in patriarchaler Personalunion, ihn als „schwarzen Bastard“ verabscheut, wird bis zuletzt nicht klar. Leider nur eine kleine Rolle spielt Graz, wo Moncur eine Weile Station macht.

Neu Erschienen

William Boyd
„Blinde Liebe“

Übersetzt von

Ulrike Thiesmeyer
Kampa Verlag
512 Seiten
24,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2019)

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