Habermas ist 90: Er lehrt uns das Denken ohne Zwang

Jürgen Habermas im Hörsaal des Philosophischen Seminars, Frankfurt 1969
Jürgen Habermas im Hörsaal des Philosophischen Seminars, Frankfurt 1969(c) Max Scheler
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Wie wird man zum größten geistigen Exportschlager Deutschlands? Nicht sein ständiges Mitstreiten begründete den Ruhm von Jürgen Habermas, sondern seine Diskursethik – die Philosophen wie ihn in die Schranken weist.

Im Frühling 2011 wollten die Spanier ernst machen mit der Demokratie. Scharen von jungen Leuten stellten Zelte auf Plätzen auf. In den Protestcamps posaunten sie ihre Wut hinaus, über die Allmacht des Geldes und der Parteien. Wie aber sollte die gerechte Gesellschaft aussehen, von der sie träumten? Sie setzten sich auf den Boden und debattierten. Jeder kam dran, jeder durfte ausreden. Dann stimmten sie ab. Erst wenn sich alle einig wären, wollten sie ihre Ziele fixieren. Natürlich kamen sie auf keinen grünen Zweig. Die umstehenden Journalisten lächelten, abgeklärt statt aufgeklärt.

Manche dachten zynisch: So wird das nix mit eurer Weltrevolution, ohne starke Hand, die euch anführt. Andere mitleidig: Ihr habt ja im Grunde Recht, so sollte Demokratie im Idealfall ablaufen. Aber zumindest bräuchtet ihr einen Meisterdenker, der eure wirre Weltsicht klärt. Einen Denker haben sie freilich immer im Gepäck, überall auf der Welt, wo sich der Geist der gewaltlosen Revolte regt: Jürgen Habermas, der deutsche Philosoph und Soziologe, der ewig Junge, der heute seinen 90. Geburtstag feiert.

Kein Herrscher, nur Hausmeister

Was würde er tun, mitten unter ihnen? Nicht das Mikrofon an sich reißen und zeitlose Wahrheiten verkünden. Sondern zuhören und mitstreiten – mehr nicht. Genau das ist seine Botschaft: Niemand, kein Philosoph und kein Religionsstifter, kann einsam grübelnd moralische Normen für ein gerechtes Zusammenleben finden. Moral entfaltet sich erst im freien Diskurs der Staatsbürger, durch Austausch von Gründen, durch den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“. Auch der Philosoph erhebt seine Stimme nur als Citoyen. Das Einzige, was er als Philosoph aufzeigen kann, sind Verfahrensregeln, die eine Chance bieten, dass die soziale Praxis gelingt. Er ist kein Herrscher, nur ein Hausmeister im gemeinsamen, geräumigen Gebäude des Denkens.

Aber gilt Habermas nicht als Paradebeispiel des engagierten Intellektuellen, der sich bei jedem Debattenthema einmischt (oder nun, in hohem Alter, bei jedem zweiten)? Ob Eurokrise, die Zukunft der EU oder Fragen der Eugenik und Hirnforschung: Habermas wirft sich in die Schlacht. Das steht dann in der Zeitung, das fällt auf. Aber nicht deshalb ist er zum zugkräftigsten geistigen Exportartikel Deutschlands geworden. Sondern weil er nach den Tumulten der 68er, in den ruhigen Jahren am Starnberger See, mit seiner Diskurstheorie etwas geschaffen hat, was die Hörsäle weltweit in Erregung versetzte: eine Neubegründung der Ethik, die mit ihrem reduzierten Anspruch vielleicht wirklich verallgemeinerbar ist – auch in einer säkularen, individualistischen, globalisierten Welt.

Die Bedingungen dafür waren miserabel: Die dominierende analytische Philosophie aus den USA hatte sich ganz zur Magd der Naturwissenschaften gemacht. Für Ethik schien da kein Platz mehr: Moralische Normen sind nur subjektive Gefühlsäußerungen oder Aufforderungen, einen Anspruch auf objektive Gültigkeit erheben sie zu Unrecht, sorry to say. Die Franzosen um Foucault und Derrida sekundierten süffisant: Was sich an Normen in der Gesellschaft verfestigt, ist doch immer nur Ausdruck von Machtstrukturen. Haben Gut und Böse ausgedient, auch angesichts globaler Bedrohungen?

Gegen beide Formen der Skepsis dachte Habermas unverdrossen an. Mit modernen Waffen der Sprachanalyse: Es gibt nicht nur „strategisches“ Reden und Handeln, mit dem ich andere zum eigenen Nutzen steuere, durch Locken und Drohen. Es gibt auch echte Kommunikation, die Geltungsansprüche verhandelt. Sicher in der Wissenschaft, wo es um Wahrheiten über die objektive Welt geht. Aber auch in der sozialen Welt, wo moralische Normen auf dem Prüfstand der Gültigkeit stehen. Sie sind „wahrheitsanalog“: Auch über sie tauschen wir Gründe aus, sie sind ebenso verbindlich, ähnlich rational.

Banner der Demokratie muss flattern

Damit ist das Erbe Kants gerettet. Aber in Demut: Der Westen soll die Welt nicht mit seinen Werten kolonialisieren. Die individuelle Sphäre des gelingenden Lebens bleibt außen vor. Dort soll jeder nach eigener Façon selig werden, gemäß seiner Kultur und Religion.

Erst wo es das Zusammenleben stört, die Rechte anderer verletzt, hebt der moralische Diskurs an. Nichts kann sein Ergebnis vorwegnehmen, kein kategorischer Imperativ à la Kant, kein fiktiver Urzustand wie bei John Rawls. Aber wenn Pedell Habermas seine Hausordnung für den gesitteten Streit um Sittlichkeit aufhängt, kann es trotzdem klappen. Zu formal? Zumindest eine inhaltliche Entscheidung ist damit schon getroffen: Das Banner der liberalen Demokratie muss flattern. Weshalb Habermas der natürliche Feind aller Autokraten ist. Aber auch zuhause sieht er die zarte Pflanze der Zivilgesellschaft stets bedroht, durch die rein „instrumentelle“ Vernunft der Technokratie und des Kapitalismus. Denn auch wenn der frühere Marxist längst vom Staatsfeind zum Staatsphilosophen avanciert ist: Ein linker Denker bleibt er allemal. Ob die Gefahr wirklich von der Marktwirtschaft droht, darüber lässt sich mit ihm trefflich streiten. Er tut es ja so gern. Aber eben nur als einer unter vielen.

Ein Verzicht, gar eine Kapitulation? Von wegen: Jürgen Habermas rückt die Aufklärung, die nach den totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts nur noch als düsterer Schatten ihrer selbst erschien, wieder in hellstes Licht. Unermüdlich, bis heute. Im September erscheint das neue Buch des Vielschreibers, 1700 Seiten soll es haben. Es wird, in Zeiten wie diesen, keine zu viel sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2019)

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