Morrison-Nachruf: Sie gab den Schwarzen ihre Geschichte zurück

Prägende Stimme der afroamerikanischen Literatur: Toni Morrison (1931–2019).
Prägende Stimme der afroamerikanischen Literatur: Toni Morrison (1931–2019).(c) Archiv
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Eine stolze Erscheinung, eine gnadenlose Chronistin, vor allem aber eine sprachgewaltige, vielstimmige Autorin: Toni Morrison war die erste Afroamerikanerin, die den Literaturnobelpreis erhielt. Nun ist sie mit 88 Jahren gestorben.

„Wir sterben; das mag der Sinn des Lebens sein“: So abgründig, so scheinbar ohne Hoffnung konnte Toni Morrison klingen. Diesen Satz sagte die amerikanische Schriftstellerin am Tag ihres größten Triumphs, bei ihrer Nobelpreisrede von 1993, mit der ihr eigenen schonungslosen Klarheit. „Aber wir sind der Sprache mächtig. Das mag das Maß unserer Leben sein“: Damit, mit der Kraft der Wörter, bäumte sie sich auf, gegen die Ungerechtigkeit des menschlichen Daseins wie gegen die Absurdität des Rassismus. Nach diesem Maß war sie nicht nur eine der Großen ihrer Zunft, sondern auch eine Stimme des Gewissens und ein Sprachrohr für jene, die über Jahrhunderte nie zu Wort gekommen waren. Toni Morrison gab den Schwarzen Amerikas in Romanen ihre so lang negierte Geschichte zurück. Dabei verwob sie die ferne Vergangenheit, bis zurück zu den ersten Sklavenschiffen aus Afrika, kunstvoll mit der Gegenwart und wechselte in ihren Familiensagen scheinbar mühelos die Perspektiven und Erzählstimmen.

Noch als alte Dame im Rollstuhl, mit dichten grauen Haaren, war die emeritierte Literaturprofessorin eine imponierende, fast einschüchternde Erscheinung. Sie hatte kein Vorbild, sie musste vorangehen, ihr Leben lang. Als geschiedene Mutter von zwei kleinen Söhnen stand sie jeden Tag um vier Uhr morgens auf, um an ihrem ersten Roman zu schreiben, „Sehr blaue Augen“, der 1970 gleich viel Lob der Kritik erntete. Die studierte Anglistin hängte ihren Job als Lektorin an den Nagel und widmete sich ganz dem Schreiben. Elf Romane, fast alle große Erfolge, darunter „Sula“, „Solomons Lied“, ein Lieblingsbuch ihres Freundes Barack Obama, „Paradies“ oder „Menschenkind“, vielleicht ihr schönstes Werk. Es geht in diesen Geschichten oft grausam zu: wie Schwarze leben mussten – versklavt, ausgebeutet, von den Weißen getrennt und diskriminiert. Aber die Härte des Inhalts wusste sie zu mildern und zu überhöhen, durch die Kunstfertigkeit der Form, die Musikalität, die Variation der Tonfälle, vom zarten Blues bis zu den zornigen Posaunen des Jüngsten Gerichts. „Ich schreibe so, dass der Leser meine Worte lustvoll genießen kann“, beschrieb Morrison ihren Stil. Eine Freude und Lebenselixier war ihr die Arbeit, fast bis zum Schluss: „Beim Schreiben bin ich frei von Schmerzen.“

Von Trump nicht unterkriegen lassen

Und bis zum Ende war das Arbeiterkind aus Lorain, einer Stahlarbeiterstadt in Ohio, politisch wach und widerständig. Sie nahm sich kein Blatt vor den Mund, besonders, wenn es um den aktuellen US-Präsidenten ging: „Donald Trump ist ein rassistischer Vollidiot“, erklärte sie im Vorjahr. Aber auch das in ihm verkörperte Wiederaufflammen des weißen Suprematismus, nach all den Kämpfen und scheinbaren Siegen, machte die stolze Identifikationsfigur der Schwarzen nicht mutlos: „Ich weigere mich, ihm zu erlauben, mir wehzutun, mich unglücklich zu machen. Ich werde wieder aufstehen.“ Nun müssen andere den Kampf weiterführen, mit der Waffe der Sprache, die nie genauer trifft, als wenn sie sich in Kunst verwandelt. Montagnacht ist Toni Morrison im Alter von 88 Jahren gestorben. Ihr Vorbild mag das Maß vieler anderer Leben sein.

Zur Person

Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte Literatur, arbeitete als Uni-Dozentin und Verlagslektorin, bevor sie ihren ersten Roman „Sehr blaue Augen“ (1970) schrieb. 1988 erhielt sie den Pulitzer-, 1993 den Literaturnobelpreis. Zuletzt erschien der Roman „Gott, hilf dem Kind“ (2015).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2019)

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