Kittler: „Die sexuelle Revolution hat nicht gegriffen“

(C) Kittler
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Friedrich Kittler, einer der bedeutendsten und umstrittensten deutschen Kulturtheoretiker der Gegenwart, gastierte in Wien. Mit der „Presse“ sprach er über Venus, Ödipus und Jimi Hendrix.

Die Presse: Sie haben sich jahrzehntelang mit Medien, Krieg und Technik befasst. Nun stellen Sie die Liebe ins Zentrum. Was interessiert Sie daran?

Friedrich Kittler: Die Liebe ist das, was uns in die Welt gesetzt hat. Eigentlich können nur Dichter und Liebende über die Liebe sprechen. Allein die Historie macht es möglich, theoretisch über sie zu spekulieren. Kurz: Die Geschichte hält uns Geschichten der Liebe vor.

Sie inszenieren Ihre Geschichten als Geschichte der Brüche: Die Liebe ist stets im Wandel begriffen.

Wichtig ist mir, dass all diese Zäsuren zufällig sind – und nicht nach Hegel historisch vorhersehbar sind.

Der Soziologe Niklas Luhmann beschreibt Liebe ebenfalls in ihren historischen Zufälligkeiten. Dabei fasst er Liebe nicht als Gefühl, sondern als einen Code, der Gefühle hervorbringt.

Ohne Codierung wissen Menschen nicht, wie sie lieben sollen! Die Literatur stellt solche Codes bereit. Nehmen sie etwa romantische Romane oder „Die Leiden des jungen Werthers“. Immer wird da mitgeteilt, wie Liebe gewünscht wird, wie sie programmiert ist.

Man soll also von der Literatur lernen, was Liebe überhaupt sei?

Ja. Natürlich wissen wir nicht, wie viele Leute sich nach Werther oder Lotte verhalten haben. Obwohl man die Selbstmörder abzählen kann, die Werther in den Tod gefolgt sind.

Nötig für eine solche Breitenwirkung ist allgemeine Alphabetisierung...

Ja. Zum anderen ist die Rolle der Mutter um 1800 erschütternd neu! Die Mutter wird zur zentralen Erziehungsinstanz und lehrt die Kinder lesen. Das führt zu einer ödipalen Situation. Goethe und Schiller rufen in ihren Dichtungen die geliebte Stimme der Mutter wieder an. Hinter der romantischen Dichtung, allem Säuseln von Blättern und Wipfeln, steht nichts als die Mutter und ihre Stimme, die begehrt wird.

Diese Stimme macht die ganze Klassik und Romantik aus?

Ja! Damit ist diese Epoche ziemlich gut beschrieben. Freud stöbert ja auch in den Kindheitserinnerungen von Goethes „Dichtung und Wahrheit“... Aber er fragt sich nicht, warum es die überhaupt gibt. Er fragt nicht nach der mutterzentrierten Struktur der Kernfamilie. Er weiß nicht, dass der Ödipuskomplex ein Produkt dieser Zeit ist.

Unterschätzen wir, wie gesteuert wir durch die Kultur sind?

Heute ist die Fiktion allgegenwärtig, dass nur die Neurophysiologie uns steuert. Man muss betonen, wie sehr Beziehungen zwischen Menschen uns bestimmen – und nicht genetische Programme.

Auch der Liebesbrief ist ein sehr frühes kulturell bedeutsames Medium.

Schon Odysseus sehnt sich nach Penelopeia, während er in den Armen von Kalypso liegt. Das hindert ihn aber nicht daran, noch mal mit ihr zu schlafen! Erst Sappho erfindet das Lied der Liebe, das sehnsüchtige Lied, diesen Zaubergesang. Diese lyrische Form ist jene, die in die Ferne hinein wirkt.

Gibt es da moderne Entsprechungen?

Wir sind doch alle empfänglich für verführerische, wortspielende Fähigkeiten! Kommerzielle Werbung ist ja in vielen Fällen ein Take-over dieser Techniken. Werbeformen werden zu Markenwerbungsformen. Man lernt sehr viel über die Liebe, wenn man sich das klarmacht. Man macht Geschäfte mit der Liebe! Das ist auch schuld daran, dass alle grünen oder linken Appelle, den Sirenen der Werbung zu widerstehen, so erfolglos geblieben sind. Weil Aufklärung im traditionellen Sinne offenbar nicht imstande ist, diesen Bann zu brechen.

Man beklagt heute oft das Überangebot an Pornografie. Zugleich gilt unter Jugendlichen heute wieder Treue als einer der höchsten Werte...

Es gibt noch immer diesen inständigen Wunsch nach einem Partner, dem man Treue schwören kann. Die sogenannte Liberalisierung oder sexuelle Revolution hat gar nicht recht gegriffen. Das Lebensalter des ersten Beischlafs scheint ein wenig nach vorne gerutscht zu sein, aber das hat nichts daran geändert, dass Zweisamkeit ein Desiderat bleibt.

Beruht unsere Kultur also wirklich auf Triebverzicht und Sublimierung?

Unsere Kultur beruht auf Liebe! Wir haben Aphrodite von den Griechen übernommen und zur Jungfrau Maria transformiert. Im Alten Testament ist das noch anders: Jahwe ist eher der Gott des Zorns. Und wenn er seinen Bund schließt, dann ist das keine Liebe. Der bedeutet zwar Treue, aber keine Erotik.

Gilt das für alle Kulturen?

In China gibt es etwa die Vorstellung, dass man unsterblich wird, wenn man beim Beischlaf nicht ejakuliert. Das ist eigentlich das Unheimliche: die unausschöpfliche Vielfalt der sexuellen Praktiken. Der Tod hat ja auch tausend Gesichter. Es gibt keinen Tod, es gibt nur Todesarten – wie Ingeborg Bachmann so richtig bemerkt hat.

Sie stehen ja in der Tradition der 68er. Und machen Dionysos gegen das Christentum stark...

Man bleibt seiner Jugend treu. Und hat nur seine Jugend, von der man erzählen kann. Soll ich ihnen von meinem 67-jährigen, dreifach operierten Körper erzählen? Nein, ich rede lieber von Jimi Hendrix. Der eröffnet sein Album „Electric Ladyland“ mit „And The Gods Made Love“. Der wusste genau so wie die Griechen, dass Welterschaffung ohne Frauen nicht möglich ist. Eine Alternative zum Atheismus ist ja der Polytheismus. Das Schöne ist: An Aphrodite braucht man nicht zu glauben. Wir alle wissen, dass es sie gibt.

Friedrich Kittler

Geboren 1943 in Sachsen. Seine Familie floh 1958 in die BRD. Schon mit seiner Habilitation „Aufschreibesysteme 1800 1900“ profilierte er sich als Leitfigur der Medientheorie. Heute lehrt er an der Berliner Humboldt-Universität. [WWW]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2011)

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