Literatur: Wie wahr muss Erinnerung sein?

Gastkommentar. Conny H. Meyer hat seine Jugend in Mauthausen aufgezeichnet. Tatsache oder Fiktion?

Es ist bekannt, dass ehemalige KZ- Häftlinge sich immer wieder an Dinge erinnern, die unmöglich sind, sich niemals zugetragen haben. So könnte es sich bei Conny Hannes Meyers Autobiografie auch verhalten. Es gibt aber Indizien, dass es sich nicht bloß um eine Fehlerinnerung handelt, sondern dass Meyers Kindheit im KZ fiktiv ist und kein Tatsachenbericht.

"Ab heute singst du nicht mehr mit. Aufzeichnungen einer Kindheit", soeben erschienen im Molden-Verlag, beginnt mit Meyers Geburt 1931 als uneheliches Kind. Er kommt zu Pflegeeltern nach Salzburg, 1938 in ein evangelisches, danach in ein katholisches Kinderheim der Vinzentinerinnen für Juden, Geltungsjuden und Mischlinge 1. Grades. 1942 kommt er nach Mauthausen, wo er 1945 befreit wird, und findet im September seinen Vater wieder.

In einer Vorbemerkung schreibt Meyer, dass seine beiden Eltern Juden waren, zwei Zeilen später, dass er "Mischling 1. Grades" ist und unbeschnitten. In einem Interview, das er 1988 dem DÖW gab, spricht er ausführlich darüber, dass er Jude ist und beschnitten. Meyer schreibt, dass er im Heim der Vinzentinerinnen einen Judenstern tragen musste. Halbjuden mussten aber keinen Judenstern tragen. Weiters schreibt er, dass Ende 1942 ein Mann vom Judenrat mit einer Liste kam, auf der sein Name stand, und aufgrund derer er zur Sammelstelle in die Taborstraße kam. Es gibt aber keine Liste, auf der Meyer steht.

Weiters behauptet er, dass er mit anderen Buben in Lastwagen gepfercht wurde. Nach langer Fahrt bleibt der Lastwagen stehen, Meyer kann die Plane ein wenig beiseite schieben und sieht eine Holztafel, auf der "Terezin" steht. ("Terezin" ist sehr unwahrscheinlich, weil alles verdeutscht wurde. Es hieß auch Auschwitz und nicht Oswiecim.) Nach einer Weile hört Meyer "Rücktransport", die Laster setzen sich wieder in Bewegung, die Insassen werden zu einem Bahnhof gebracht, in Viehwaggons gedrängt und erreichen schließlich Mauthausen.

So ein Transport steht auf keiner der Listen, die dem DÖW vorliegen. Von Herbst 1940 bis März 1944 waren in Mauthausen nur jüdische Häftlinge, die wegen angeblicher politischer Betätigung von der Gestapo festgenommen wurden. Kinder gab es sehr wohl in Mauthausen. Es ist aber nicht bekannt, dass vor 1944 jüdische Kinder in Mauthausen waren. In Mauthausen angekommen, werden die Kinder mit den gelben Sternen aus dem Haufen Angekommener herausgeholt. Einige Kinder reißen die Judensterne ab und verstecken sie in Jacken- oder Hosentaschen. Auch Meyer reißt den Stern ab, verscharrt ihn im Schneematsch. In der Vorbemerkung schreibt Meyer, dass er den Judenstern heute noch besitzt. Gleiches erzählte er in besagtem Interview 1988. Es wird immer beschrieben, dass die Juden nicht wussten, was mit ihnen im KZ passiert. Es mutet sehr merkwürdig an, dass sich die Kinder die Judensterne abrissen.

Im Text schreibt er weiter: "Einer der Zebramänner reißt mich aus dem Gewühl heraus..., 'Jude?' ...er schubst mich zu dem Haufen ohne Sterne... Der Weißmantel (offenbar ein Arzt) lacht...: Hose hinunter! ...Der Weißmantel beugt sich vor, geht in die Hocke und betrachtet meinen Miniphallus. Sich wieder aufrichtend, schüttelt er den Kopf. Heißt das, dass ich in der falschen Formation bin[?] ... Sofort zieht mich der Ordner am Jackenkragen aus der Reihe und verpasst mir eine Ohrfeige... ,Der Stern, wo hast du ihn, Jud'?... Der Weißmantel gibt mir einen Wink, meine Hose wieder hochzuziehen. ,Ab!', sagt er noch und drückt mich wieder in die Reihe." Aus dieser Stelle geht entgegen seinen Angaben in der Vorbemerkung hervor, dass Meyer beschnitten ist, dass ihn aber der Arzt in die Reihe der nichtjüdischen Kinder zurückgeschoben hat.

Meyer schreibt, dass er nicht registriert war. Zu dieser Zeit gab es keine nicht registrierten Häftlinge, erst ab 1944, als die jüdischen Häftlinge aus anderen Lagern evakuiert worden sind. In "Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten", 1992, erzählt er: "Wir sollten später erst tätowiert werden, man wollte uns dort nur vorübergehend lassen und weiter nach Auschwitz schicken. Aber es kam nicht dazu..." In Mauthausen wurde niemand tätowiert. Die Häftlingsnummer musste auf der linken Brustseite und rechts am Hosenbein getragen werden. Außerdem gab es Blechmarken mit einer eingestanzten Nummer.

Wenn wir Meyer konzedieren, dass er die genauen Jahreszahlen nicht mehr in Erinnerung hat und Erinnerung und Gelesenes vermischt, so müsste er es doch wissen, wenn er aus einem anderen Lager nach Mauthausen transportiert worden wäre. Davon abgesehen, sollte ein Mann wissen, ob er beschnitten ist oder nicht, ob er ein Jude ist oder Halbjude.

Meyer erzählt, dass er im Effektenblock, in dem er arbeitete, Bücher fand und nächtens gierig las. Es ist unvorstellbar, dass ein 12-, 13-jähriger Bub im KZ nächtelang liest. Mauthausen war ein Lager der Stufe III mit den härtesten Lagerbedingungen. Die Schlafenszeit war ohnedies kurz, die Häftlinge wurden misshandelt, hatten ständig Hunger, waren krank, hatten Durchfall und Läuse, waren chronisch erkältet und hatten Fieber. Unter solchen Bedingungen hat man keine intellektuellen Bedürfnisse, wie Jean Amery in "Jenseits von Schuld und Sühne" zu erklären versucht.

Selbstverständlich vergisst Meyer auch nicht auf Krankheiten. Zerschlissene und erfrorene Hände und auch eine Tuberkulose hat er akquiriert, die immer dramatischer wird. Den ununterbrochenen schwächenden Durchfall, von dem alle KZ-Häftlinge berichten, erwähnt er mit keinem Wort. Auch von den quälenden Läusen erfahren wir nichts.

Als Meyer befreit wird, kann er nicht mehr richtig Deutsch. Er spricht ein Kauderwelsch aus Polnisch, Spanisch, Ungarisch, Russisch, Holländisch, Französisch, Roma und Jiddisch. Nach seinem Namen gefragt, antwortet er auf Jiddisch(!): "Men hat gesugt mich Meyer als Nom." Es gab tatsächlich eine Art Lagersprache mit Brocken aus allen Sprachen. Die Häftlinge waren aber im Allgemeinen mit ihren Landsleuten beisammen, die einzige offiziell erlaubte Umgangssprache war Deutsch. Meyer erzählt, dass er immer mit einem Spanier zusammen war, der gebrochen Deutsch sprach. In Meyers Geschichte wird auch kein einziges Mal die Bekanntschaft mit einem Juden erwähnt oder dass er Jiddisch sprechen hörte oder gar lernte, wie zum Beispiel Ruth Klüger in Theresienstadt.

1960 erschien von Conny Hannes Meyer der Gedichtband "den mund von schlehen bitter", versehen mit einem Nachwort, in dem er zitiert wird: "Ich blieb von 1939 bis 1945 im ,Heim' interniert und kam wunderbarerweise nicht auf die Transportlisten, die dort zusammengestellt wurden, für Auschwitz und Theresienstadt..." Im Flugblatt zu einer Aufführung vom 10. 1. 1961 schreibt er: "Ich kam in ein Sammellager für nichtarische Kinder und blieb bis 1945 als Judenmischling interniert."

Zur Person: Claudia Erdheim ist Philosophin und Publizistin in Wien.

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