Dichter & Denker

Heimito von Doderer: Dämonen, Disziplin und dicke Damen

Heimito von Doderer vor der Strudlhofstiege, Schauplatz seines ersten Romanerfolgs.
Heimito von Doderer vor der Strudlhofstiege, Schauplatz seines ersten Romanerfolgs.(c) Votava / Imagno / picturedesk.co (Votava)
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Wirre Gedanken geistern durch sein Hirn. Der gehemmte Einzelgänger verbirgt sich gern hinter den Figuren seiner Werke: Heimito von Doderer, einer der bedeutendsten Romanciers des 20. Jahrhunderts.

Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer . . . ein ganzes Leben rinnt das an uns herunter“, meint Heimito von Doderer. Für den 1896 als Sohn eines Architekten im barocken Laudonschlössl in Hadersdorf-Weidlingau Geborenen dauert es 55 Jahre lang, bis er als ein österreichischer Dichter von Weltformat anerkannt wird: Die „New York Times“ vergleicht seinen Roman „Die Dämonen“ mit Faulkners Spätwerk, Brochs Trilogie „Die Schlafwandler“ und Musils „Mann ohne Eigenschaften“. „Der Spiegel“ würdigt 1957 das Sprachgenie Doderer in einer Titelgeschichte: „Auf der Suche nach einem Thronfolger für den verwaisten Kronsessel der deutschen Literatur [. . .] wendet sich der Blick deutlich nach Wien.“
Mit 19 Jahren trägt er die Uniform eines k. u. k. Dragoneroffiziers, mit 23 ist er Holzknecht in Sibirien, mit 25 durchwandert er die Kirgisensteppe, noch im gleichen Jahr beginnt er, Jus, Geschichte und Kunstgeschichte zu studieren. Nach der russischen Kriegsgefangenschaft und dem monatelangen Fußmarsch nach Hause beginnt Doderer, auf Büttenpapier eines Greißlers der Kreisstadt Krasnojarsk zu schreiben: Lyrik und kleine Erzählungen. Die großen Romane folgen wesentlich später: „Die Strudlhofstiege“ 1951, sein Hauptwerk, „Die Dämonen“, 1956.
Rund 25 Jahre arbeitet Doderer wie ein Besessener an dem 1345 Seiten starken Œuvre. Mit fotografischer Präzision reflektiert er das Bild der Wiener Gesellschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Quer durch alle Schichten, vom Hochadel bis tief in die Niederungen der Galerie, der Halb- und Unterwelt. Die großbürgerlichen Figuren, die sich einer zu Ende gehenden Tradition hingeben, sind das Personal in fast all seinen Romanen. In von Kampfer und Lavendel durchwehten Cottage-Villen, auf Tennisplätzen und in Landhäusern. Schale Konversation. Gespielte Lässigkeit. Oberflächliche Gefühle.
In Wiener Vorstadt-Tschocherln studiert Doderer die anderen Vorbilder für seine Romane: Beamte, Bohemiens, Bierdippler, Kammerdiener Scheichsbeutel, Malermeister Ederl, einen wahren Meister im Schnapsen, die oft dem Alkohol zusprechende Prostituierte Anita. Der blendend gekleidete, soignierte Herr von Doderer begibt sich regelmäßig zur Recherche in seine geliebten Stammbeiseln, die für ihn das „Rückgrat der Intelligenz“ sind: Die „Flucht nach Ägypten“, der „Wilde Mann“, „Zur Stadt Paris“.
Hier finden auch immer gewisse Treffen mit „Dicken Damen“ statt. Nach Komplimenten und knapper Konversation übersiedelt man in das Josefstädter Atelier, das Doderer gemeinsam mit seinem Freund, dem Maler Albert Paris Gütersloh, bewohnt. Die Damen – „Gewichtsmindestanforderung 100 Kilo“ – müssen sich dann ihrer Kleider entledigen, ein weißes „Büßerhemd“ überstreifen und auf allen vieren kriechend lateinische Texte zitieren. Die beiden Herren stärken sich inzwischen mit Mocca und Zwetschgenschnaps. Perversion pur.
Wie Doderer sucht auch der Schriftsteller von Schlaggenberg die Bekanntschaft von Frauen mit „überaus mächtiger Statur“. Mittels Annoncen in Tageszeitungen. An Beispielen zeigt er in den „Dämonen“, wie schwierig es ist, dem „Dicke-Damen-Idealtypus“ zu entsprechen: „Rosi A.: Fett, trefflicher Reithosentyp“ oder „Hanna W.: Holzgeschnittene Kontur. Hypertrophisch dicke Fesseln.“

Ordnungsrituale. Statt des Wunschs nach „schwersten sexuellen Excessen“ diszipliniert sich Doderer und wählt das „weitaus gewagtere Abenteuer der Tugend“. Der Tagesablauf ist spartanischen Ordnungsritualen unterworfen. Nach der Morgengymnastik beginnt die Arbeit zeitigst. Wenn beim Geräusch des ersten Straßenbahnzugs das geplante Arbeitspensum absolviert ist, gönnt man sich zur Belohnung den ersten Pulverer: extrem starken türkischen Kaffee mit sieben Stück Zucker und einer Prise Salz. An einem winzigen Tisch mit verschiedenfarbigen Tinten und Stiften und einem Reißbrett mit Skizzen der Romanhandlungsabläufe wird dann weitergeschrieben. In völliger Isolation.
Nur Frau Poldi, auch Herr Rittmeister genannt, wird in der Zwei-Zimmer-Küche-Wohnung in der Währinger Straße geduldet. Mittels einer Lavendelsprühflasche hat sie für Wohlgeruch zu sorgen. Und sie hat Guckloch und Briefschlitz zu besprühen – um Infiltration von „bösartigen, fast dämonisch-obstinaten Ausdünstungen“ zu verhindern. Bis zum frühen Abend entsteht im Arbeitszimmer eine „Geruchssymphonie“ aus reichlich konsumierten „Austria 2“-Zigaretten, Pfeifenrauch sowie dem scharfen Geruch von Obstbränden.
Hinter der Maske eines gefestigten, großbürgerlichen Herrn, der die äußere Form stets sorgsam kultiviert, lebt der labile Dichter ein Dasein, das von Verwirrung geprägt ist. In seinem Kopf geht es zu wie in einem Bienenstock. Wie von Dämonen gepeitscht, geistern wirre Gedanken durch sein Hirn. Das Chaos dominiert. Sexuelle Unausgeglichenheit bestimmt das Leben. Durch pathetisches Gehabe versucht der brillante Selbstdarsteller, die Bürde eines „Abseitsstehenden“ zu überwinden. Sehr gern bei dichtenden Damen wie Herta Staub und Dorothea Zeemann, deren Blütezeit schon leicht verweht ist. Sie adorieren ihn, in ihrer Gesellschaft fühlt er sich geborgen.
Der gehemmte Einzelgänger verbirgt sich auch gern hinter den Figuren seiner Romane. In den „Dämonen“ ist er sich selbst Vorbild des Sektionsrats von Geyrenhoff, des Schriftstellers von Schlaggenberg und des Historikers von Stangeler. In Erlebnissen von mehr als dreißig präzise gezeichneten Figuren wird rund um den Brand des Justizpalasts die Gefahr aufkeimender Bürgerkriegsmentalität analysiert.
Doderer fühlt sich gewisse Zeit von „Zucht und Ordnung“ der NS-Machthaber angezogen und bringt Hitlers manischen Vernichtungskampf mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation durcheinander. Relativ bald distanziert sich das illegale NSDAP-Parteimitglied Nr. 1526987 vom Nazi-Gedankengut und fühlt sich, als ob er „Giftschwammerln gegessen hat: Man muss sich auskotzen.“
Heimito von Doderer, für Friedrich Torberg der „österreichischste Schriftsteller Österreichs“, wird seit dem Erscheinen der „Dämonen“ in einem Atemzug mit Balzac und Brecht, Proust und Dostojewski genannt. Seine minutiös komponierten Romane machen ihn unverwechselbar.
Im Todesjahr 1966 resümiert er: „Schließlich hebt man den Deckel wie von einem Topf und sieht in sein eigenes Leben und hat den ganzen Speisezettel um die Nase. In diesem Augenblick hat man merkwürdigerweise nicht nur bereits gespeist, sondern auch schon – gefressen.“

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