Kiew: Euro-Stil für die Mutter der Rus

Kiew EuroStil fuer Mutter
Kiew EuroStil fuer Mutter(c) AP (EFREM LUKATSKY)
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Das ist Kiew: Die älteste Stadt Russlands, heute aber ukrainisch. Ein schwertbewehrter Erzengel und eine Schlucht des Todes. Ein Historiker, der Letztere studiert. Ein mimikfreier Künstler mit Grabesstimme.

Angenommen, da steckt einer in einem Liebesverhältnis mit einer Stadt, und angenommen, da wird er im neunten Jahr dieses aufwühlenden Verhältnisses von der „Presse am Sonntag“ in eben jene Stadt geschickt – wo soll er bloß anfangen?

Vielleicht am besten damit, dass er sich an seinen ersten Eindruck erinnert. Als ich 2002 erstmals nach Kiew geriet, kam ich aus dem übersichtlichen Minsk und notierte am ersten Tag: „Dramatische Topografie. Vom Garten des Parlaments, am Steilufer des Dnjepr gelegen, möchte man sich zu Tode stürzen. Jähe Grabenbrüche tun sich inmitten des Zentrums auf, mal offen zutage liegend, mal von Treppen, Gassen, Imponierbauten überwunden.“

Seither hab ich neun Sommer in Folge im Werbnoje-See des Kiewer Plattenbau-Massivs Obolon gebadet. Ich war da, als es noch keine Supermärkte gab und die Bauern rohes Fleisch in den Unterführungen verkauften, ich konnte zusehen, wie die Wohnblöcke der elitären Siedlung „Oase“, hoch und breit und eng gesetzt, die Brache am Ufer des Dnjepr-Stroms auffraßen. Von Anfang an verkündete ein Schild: „Evroremont“ – „Euro-Renovierung“. Zuletzt bekam die „Oase“ eine neue Kirche, aus deren hocheklektizistischen Minikuppeln nächtens ein discoartiges UV-Licht zu leuchten begann.

Die Schlucht der Leichen. Ich kehre zum ersten Eindruck zurück. Da ist eine Kiewer Schlucht, von der haben wir alle einmal gehört: In Babyn Jar, damals am Stadtrand gelegen, erschossen Deutsche am 29. und 30. September 1941 einen Großteil der Kiewer Juden. Die Schlucht, so besagt es die Überlieferung, wurde mit den 33.771 Leichen eingeebnet.

Ich treffe den Mann, für den das Ringen um würdiges Gedenken zum Lebensthema wurde. Nach Babyn Jar will Vitalij Nachmanowitsch nicht fahren, „das ist der Ort, wo mein Opa liegt“. Inmitten der um Wohneigentum strampelnden Provinz-Ukrainer, die die Hauptstadt mittlerweile verstopfen, erscheint dieser leise Intellektuelle, der unter seinem beinah unbewegten Bart Sätze von druckreifer Klugheit abgibt, als Exot. Geld scheint den studierten Historiker und Politologen überhaupt nicht zu interessieren. Politik sei ihm gleichgültig, „Aktivist“ will er nicht genannt werden, das klingt ihm alles zu „merkantil“. Wir gehen oben spazieren. Oben, das heißt in der Oberstadt Petschersk, dem traditionellen Sitz der Macht, des Reichtums, der berühmten Kirchen und Klöster, hierarchisch geschieden von der Unterstadt Podol. Auf dem Steilufer, das den Blick auf die endlose Schwarzerde-Ebene der Umgebung freigibt, denkt man unwillkürlich, hier musste eine Stadt entstehen, und zwar unbedingt eine Hauptstadt.

Russland nahm – und behielt. Es erscheint widernatürlich, dass die erste Hauptstadt eines ostslawischen Staates 800 Jahre lang fremdbestimmte Provinz war. 1667 übertrug Polen dem russischen Zaren die Verwaltung der Stadt, übergangshalber auf zwei Jahre. Ungeachtet von Gastspielen marodierender Hetmane (Feldherren) gab Moskau die „Mutter der Rus“ bis 1991 nicht mehr heraus.

„In Babyn Jar hat man nicht zwei Tage lang erschossen, sondern zwei Jahre“, sagt Nachmanowitsch. 100.000 Tote, die Hälfte Juden. Er erzählt den unbekannten Teil der Geschichte. „Die Deutschen haben im August 1943 KZ-Insassen gezwungen, die Leichen auszugraben und zu verbrennen. Die Asche wurde in alle Richtungen zerstreut.“ Die Schlucht wurde letztlich nicht mit den Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns zugeschüttet, sondern mit dem staubigen Müll eines sowjetischen Ziegelwerks, von 1951 bis 1961.

„Jeden September kamen Angehörige der ermordeten Juden zum Gedenken heraus, wurden aber von der Polizei vertrieben oder verhaftet.“ In den Sechzigern plante man einen Freizeitpark mit Tanzfläche, das immerhin verhinderte die Kiewer Intelligenzija. Eine Straße wurde gebaut, drei Friedhöfe zerstört. Warum die Grausamkeit gegenüber Toten? „Der sowjetische Antisemitismus“, sagt Nachmanowitsch, „Babyn Jar handelt nicht nur von der Vernichtung der Juden, sondern auch von jener des Gedenkens.“ Heute gibt es etwa 20 weit über das Gelände verstreute Denkmäler, hat Nachmanowitsch gezählt, jede Opfergruppe stellt einen Stein auf. Er würde alle 20 stehen lassen, das Interesse der ukrainischen Öffentlichkeit ist ohnehin minimal. Dann gibt mir der Gründer des „Komitees Babyn Jar“ noch einen irritierenden Hinweis: „Auf dem Gelände dort gibt es drei weitere Schluchten. Sie haben nur Babyn Jar gefüllt.“

Ich fahre hin, der einem ungepflegten Wald ähnelnde Park lässt sich heute bequem mit der Metro erreichen. An diesem warmen Sonntagnachmittag bieten schmutzige junge Schausteller ein müdes Pony zum Fotografieren an; keine Kundschaft. Auf Bänken sitzen derbe Paare mit Bierflaschen und geben eine harmlose Vorstellung von Unterschichtensex. Tief im Wald, wo sich die Sonntagsausflügler verlieren, stoße ich tatsächlich auf eine Schlucht. Der schmale Grabenbruch ist bloß dreißig Meter tief, aber jäh. Nur hier kann ich mir die beiden Septembertage des Jahres 1941 annähernd vorstellen.

Natürlich mache ich den obligatorischen Spaziergang, von Stalins durchaus gelungener Flaniermeile Kreschtschatyk – auch das ein früherer Graben – zum „Majdan“, dem „Platz der Unabhängigkeit“, Hauptplatz der Dreimillionenstadt der „Orangen Revolution“ 2004. Unterirdische Einkaufswelten stoßen in Gestalt gläserner Globen ins Freie. In viel Gold getunkt, breitet hoch oben ein schwertbewehrter Erzengel Michael die Schwingen aus.

Vor den Verkaufsständen mit patriotischen Utensilien haben sich zwei ältere Ukrainer in eine alte Diskussion verkeilt. „Die ukrainische Nation ist viel älter als die russische“, predigt der eine. „Wolodymyr, nicht Wladimir hat der Fürst geheißen, der die Ostslawen zum Christentum bekehrt hat, als Moskau noch im Wald und Sankt Petersburg im Sumpf gesteckt ist.“ Der Mann hält selbstgewiss inne, er hat einen Punkt gemacht. Der andere nutzt die Pause: „Und warum erzählst du mir das alles auf Russisch?“

Wer spricht hier Ukrainisch? In diesem Sinn (die einzige Amtssprache Ukrainisch ist auf Kiewer Straßen kaum je zu hören) empfängt mich die Architekturkritikerin Xenia Dmytrenko. „Ich spreche seit zwei Jahren kein Russisch mehr in Kiew“, sagt sie stolz. Nur für mich mache sie eine Ausnahme. Die Chefredakteurin der Zeitschrift „AKK“ („Architektur Kultur Kritik“), unvernünftig jung, beschreibt „den Krieg um die Stadt“ – die sogar bei den sonst so geduldigen Ukrainern auf Widerstand stoßenden Machenschaften der oft mit Parlamentariern verbundenen Grundstücksmafia.

Dmytrenko sagt, sie engagiere sich in der „Zivilgesellschaft der Intellektuellen“. Man organisiert sich lose über „Google Groups“, um ein Einkaufszentrum im chic gewordenen Zentrum der Unterstadt Podol zu verhindern. Als sie von ihrem Besuch in einem Protestcamp an der Flughafenstraße berichtet, ist jedoch deutlicher Zweifel herauszuhören. Einerseits erinnerten sie die Apfelbäume des besetzten Gartens an ihre Kindheit in Winniza. Mit altkluger Melancholie sagt die selbst noch Studierende: „Heute schickt man die Kinder zu McDonald's, wir wurden in einen großen Obstgarten geschickt. Das ist eine ganze Welt, die verschwunden ist.“ Andererseits sah sie unter den Mahnwache sitzenden Omas „auch Mittelklassemenschen mit großen Autos“. Als Dmytrenko globale Urbanisierungsprozesse analysiert, fällt mir auf, dass sie Kiew immer mit Städten der Dritten Welt vergleicht. Ich weise sie darauf hin. Sie stutzt und nickt.

Das beschreibt nicht die Stadt, denke ich insgeheim, die mich zu zwei Dutzend Besuchen angelockt hat. Kiew, das ist für mich der Fluss, der sich der Geld-und-Sex-Stadt in einem Saum zartgelber Sandstrände zu Füßen legt. Die Inseln wie die Partyinsel „Gidropark“, zu der die goldenen Kuppeln von Höhlenkloster und Sophienkathedrale herüberfunkeln. Partyschiffe auf dem Dnjepr, akustische Fetzen von Russenpop wehen ans Ufer.

Kiew, das sind nach Ansicht vieler Spezialisten, deren Urteil ich teile, die schönsten Frauen der Welt. Kiew ist die Tiefe der Metro, steinern und kühl. Leise schiebt einen die Rolltreppe durch das grün schimmernde Halbrund hinauf. Im schmeichelnd weißen Licht schmaler Zylinderlampen zieht eine Galerie von Amazonen vorbei, eine Stadt in stehenden Porträts, schweigend, unbewegt. Kiew, eine Winterstadt mit echtem Schnee, die dezent geschminkten Schönheiten von Pelzen umrahmt.

Bevor ich mich in Schwärmereien verliere, treffe ich den staubtrockenen Künstler Nikita Kaban von der international erfolgreichen Künstlergruppe REP („Revolutionärer Experimenteller Raum“). Er führt mich in eine unbekannte Welt, in einem abseitigen Graben von Podol versteckt, in den filmkulissenartigen Nachbau einer verfremdeten Art von Altstadt. „Wosdwischenskaja“ – das Verkaufsschild beschreibt es als „Bezirk fashionabler Immobilien“ – ist fertig. Und unbewohnt. „Eine Wunderstadt – fast leer“, sagt der junge Feschak Kaban mit Grabesstimme. Und spottet im selben Tonfall: „Das ist die Simulation einer Moderne, die wiederum die Gotik simuliert. Sie haben vom vorsowjetischen Kiewer Bourgeoisie-Stil das Schlechteste übernommen. Die Qualität ist miserabel. Der Fassadengranit und das Pflaster werden keine zehn Jahre halten.“

Im Gastgarten oben – der mimikfreie Künstler wohnt an feinster Petschersker Adresse – beschreibt er mir die allgegenwärtige „Euro-Renovierung“ als den Stil der Epoche. Diese Form einer angeblich aus dem Westen übernommenen Innenausstattung umfasst Elemente wie Deckenstuck, Säulen und Arkadenbögen mit eingepasster Beleuchtung, Wandfarben in Rosa und Apricot, Dekors aus Plastik, Kunstpflanzen und reichlich Gips. „Mit Euro-Renovierung kann man Zugehörigkeit zum Westen demonstrieren, gleichzeitig aber auch zur orthodoxen Welt. Euro-Renovierung ist eine Karikatur, ins Monumentale gesteigert. Ein großer Teil der ukrainischen Kultur ist Euro-Renovierung.“ In ihrer Münchner Ausstellung „Euro-Renovierung in Europa“ unternahmen die REP-Künstler das ironische Experiment, das Geschenk an den Absender zu retournieren. Wie der Name sagt, soll Euro-Renovierung ja aus Europa gekommen sein.

Allzu gern will ich die Macher der „Oase“ besuchen, des Euro-Paradieses hinter meinem Badesee, in dessen Reihenhausteil sich sogar der ukrainische Präsident eingekauft hat. Wie das in der Ukraine nicht selten der Fall ist, lässt sich unmöglich herausfinden, wer hinter der „Oase“ steht. Dafür gewährt mir „TTM“ ein Interview, eine der großen ukrainischen Baufirmen, die Kiew mit dem beeindruckenden „Business Premium Class“-Wohnblock-Triumphbogen „Triumf“ beschenkt hat.

Der auf Baukräne klettert. Zur Vorbereitung treffe ich Igor Luzenko, einen Aktivist von „Save old Kiev“. Dass er im Brotberuf eine Nachrichten-Webseite namens „Finanzist“ gegründet hat, weckt nicht unbedingt mein Vertrauen, aber der Mann wirkt forsch und munter. Der Journalist stammt aus altem Kiewer Adel, der Bruder seines Großvaters hat die sehr kitschige Kiewer Hymne komponiert, die Straße vor dem Höhlenkloster wurde nach ihm benannt. Um gegen Schwarzbauten zu protestieren, klettert der Großneffe nun auf Baukräne. „Einer der Kräne war sehr bequem“, erzählt Luzenko, „wie ein Häuschen mit Aussicht.“

Einen Baustopp hat er schon erreicht. Den Ruf eines Projekts namens „Fresko Sofija“ hat er mit einer Internetkampagne ruiniert. Er nennt den starken Zuzug nach Kiew „ungesund“, Museen und Buchhandlungen hätten gelitten, „es ist nicht zu sehen, dass Kiew den Touristen gefallen will“. Ich frage den Baukran-Erklimmer, welche Frage ich dem Baulöwen von TMM stellen soll. Luzenko sagt: „Fragen Sie ihn, warum sie nicht dagegen aufstehen, dass sie so viel Schmiergeld an die Beamten zahlen müssen.“

Als ich im Büro des bulligen Baumanagers Alexej Goworun sitze, stelle ich diese Frage tatsächlich. „Nein, wir zahlen keine Schmiergelder“, sagt er, „wir sind eine anständige Firma.“ „Man sagt aber“, setze ich nach, „in Kiew kann man ohne Schmiergeld überhaupt nichts bauen.“ „Wer sagt das, nennen Sie den Namen!“ Verhaltenes Lachen im Raum. Ansonsten macht Goworun, während sein Telefon Sturm läutet, nur zustimmungsfähige Aussagen. „Bauen ist interessant, schwierig und notwendig.“ Euro-Renovierung hält er für keinen Epochenstil, das sei ein weiter Begriff, „irgendwer kann darunter auch verstehen, dass er seinen Kaktus nach Feng Shui platziert“.

Er sagt, mit den Leuten von „Save old Kiev“ habe er nie Probleme gehabt, deutet aber mögliche kommerzielle Interessen der Aktivisten an. Dass sich jemand einfach so für eine Sache engagieren könnte, hält in der Ukraine kein Mensch für möglich.

China? Viel zu beweglich! Ich frage den Baulöwen noch, wie er den ukrainischen Baustil der Gegenwart charakterisieren würde. „Das, was jetzt gebaut wird“, hebt er an, „wird, auch wenn immer wieder mal eine Fassade renoviert wird, fünfzig oder hundert Jahre stehen. So eine Beweglichkeit wie in China haben wir nicht.“

Ob das gut oder schlecht ist? Er überlegt und spitzt den Mund zu einem englisch ausgesprochenen Wort: „Fusion.“ Und das beschreibt Kiews Zukunft wohl ziemlich gut.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2010)

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