Der Holocaust: „Die letzten Zeugen“

Zeitzeugin Lucia Heilman, groß im Bild. Im Burgtheater kamen neben ihr Suzanne-Lucienne Rabinovici, Ari Rath, Vilma Neuwirth, Rudolf Gelbard und Marko Feingold zu Wort. Auf dem Sessel der verstorbenen Ceija Stojka: ihr Tuch.
Zeitzeugin Lucia Heilman, groß im Bild. Im Burgtheater kamen neben ihr Suzanne-Lucienne Rabinovici, Ari Rath, Vilma Neuwirth, Rudolf Gelbard und Marko Feingold zu Wort. Auf dem Sessel der verstorbenen Ceija Stojka: ihr Tuch.(c) APA/BURGTHEATER/REINHARD MAXIMIL (BURGTHEATER/REINHARD MAXIMILIAN)
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75 Jahre nach dem Novemberpogrom von 1938 bringt ein Projekt von Doron Rabinovici und Matthias Hartmann Überlebende der Vernichtung auf die Bühne. Eine bewegende Collage mit Erinnerungen starker Charaktere.

Im Hintergrund der Bühne des Burgtheaters sitzen Zeitzeugen in einer Reihe. Sie sind zwischen 81 und hundert Jahre alt, sie konfrontieren das Publikum. Vom Vordergrund trennen sie transparente Schleier. Live und in Großaufnahme wird dort zwischen historischen Aufnahmen das Gesicht jenes Überlebenden des Holocaust gezeigt, dessen Aufzeichnungen vorn an einem Pult gerade eine Schauspielerin oder ein Schauspieler vorliest. Im Zwischenraum, hinter der Leinwand, sitzt eine Frau und schreibt auf einer großen Papierrolle mit. Die Rolle ist am Ende sehr lang, gut zwei Stunden wird gesprochen. Dieses Aufzeichnen sieht man ebenfalls auf dem Screen. Es gehört wesentlich zu den Details eines bewegenden Abends. Der Terror der Nazis, die Vernichtung von Juden und Roma und allen anderen wird weiterhin protokolliert. Kein Name darf vergessen werden.

„Es werden immer weniger, denen wir zuhören können“, sagte Burgtheater-Direktor Matthias Hartmann einleitend zu dem Projekt „Die letzten Zeugen“, das er mit dem Autor Doron Rabinovici verwirklicht hat und das am Sonntag erstmals gezeigt wurde – aus Anlass des Novemberpogroms 1938.

Das Lied einer Verstorbenen

Zu Wort kamen Lucia Heilman, Vilma Neuwirth, Suzanne-Lucienne Rabinovici, Marko Feingold, Rudolf Gelbard und Ari Rath. Ein Sessel blieb frei, behängt mit einem bunten Tuch – ein symbolischer Akt für die von Hitlers Vollstreckern verfolgte Lovara-Roma Ceija Stojka, die als Kind die Konzentrationslager Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen überlebt hatte. Stojka ist am 28.Januar 2013 im Alter von 79 Jahren in Wien gestorben. Ihre Geschichte wurde verlesen, man hörte ihre Stimme nur am Schluss, vom Band. Sie sang ein Lied, das viele zu Tränen rührte. Auch die Schauspieler vorn rechts, die die Schicksale vortrugen (Mavie Hörbiger, Dörte Lyssewski, Peter Knaack und Daniel Sträßer), waren sichtlich mitgenommen von dem, worüber sie berichteten, nein, ebenfalls Zeugnis ablegten. Am Ende führten die Vorlesenden nach und nach die Protagonisten von der Bühne – würdige Momente.

Die konzentriert und schnörkellos inszenierte Collage, bei der am Ende alle im Saal zu lang anhaltendem Applaus aufstanden, gab auch neuen Mut. Denn die Überlebenden, so verschieden ihre Biografien sich entwickelt haben, sind alle starke Persönlichkeiten voller Beharrlichkeit, die ein Wunsch eint. Rudolf Gelbard, der als Kind im KZ Theresienstadt inhaftiert war, sprach ihn am Ende, Simon Wiesenthal zitierend, aus: künftigen Generationen vermitteln, wie es war. Das sieht er als seine Verpflichtung an. Suzanne-Lucienne Rabinovici sagte danach in einer der Diskussionen in den Foyers, wie die APA berichtet: „Vergesst uns nicht! Erzählt es weiter!“

Diese Geschichten, die 1938 begannen und bis in die unmittelbare Nachkriegszeit führten, bekamen in der dramatischen Einrichtung von Hartmann ungeheure Intensität. Es ist eine Sache, in Rabinovicis autobiografischem Buch „Dank meiner Mutter“ (S. Fischer) zu lesen, wie sie als Susie Weksler in Wilna mit ihrer Mutter den Terror, die Misshandlungen, die Krankheiten überlebte. Es ist ein noch viel stärkerer Eindruck, wenn man beim Vortrag dieser Geschichte das gefasste, konzentrierte Gesicht des Opfers in Großaufnahme sieht. Kämpferisch ist diese Frau, so wie auch Ari Rath, der sich bereits zu Beginn des Nazi-Terrors in Wien nach Palästina aufmachte, um an der Gründung Israels teilzuhaben. Nicht ohne Grund nannte der spätere Chef der „Jersualem Post“ seine Erinnerungen „Ari heißt Löwe“ (Zsolnay). Diese Zeugen haben ihr Schicksal auch in Buchform aufgearbeitet, sie sind an ihrer Geschichte offenbar nicht zerbrochen. Ein hervorstechendes Merkmal von ihnen allen scheint die Zuversicht zu sein, selbst wenn sich paradoxerweise bei manchen Opfern Schuldgefühle in die Erinnerung drängen.

Verstörende Sätze von unglaublicher Brutalität waren zu hören, geäußert auch von „lieben Nachbarn“ (die selbst nach 1945 oft wenig Reue zeigten). Es herrschte die nackte Angst. Von Scham ist viel die Rede, doch auch von Hoffnung. In diesem Inferno gab es Menschen, die den Verfolgten unter Lebensgefahr halfen. Auch darauf haben diese Zeugen nicht vergessen.

ZUR PERSON

Doron Rabinovici, 1961 in Tel Aviv geboren, lebt seit 1964 in Wien. Er ist Schriftsteller, Essayist und Historiker. Seine Mutter Suzanne-Lucienne (Schoschana) Rabinovici überlebte mehrere Konzentrationslager und einen der Todesmärsche.

Termine für „Die letzten Zeugen“: 10. und 21.11., 12.12.2013 sowie 26.1.2014 im Burgtheater.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2013)

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