Analytiker des 20. Jahrhunderts: Interessante, mörderische Zeiten

Wiener Vorlesungen
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Historiker Eric J.Hobsbawm wird Ehrenbürger der Stadt Wien. Eine Laudatio.

Im Frühjahr 2002, kurz nach Nine-Eleven, ist Eric J. Hobsbawms Autobiografie erschienen – unter dem zunächst nach britischem Understatement klingenden, aber mit ironischem Augenzwinkern gewählten Titel „Interesting Times“. Hobsbawm dachte dabei wohl an den chinesischen Fluch: „Ich wünsche dir, in einer interessanten Zeit zu leben.“ Der deutsche Verleger, dem dieser britische Scherz zu sophisticated erschien, machte „Gefährliche Zeiten“ daraus, was im Hinblick auf die Katastrophen des 20.Jahrhunderts fast euphemistisch wirkt. Hobsbawm selbst hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass sein Hauptwerk „Das Zeitalter der Extreme“ die Hegelsche Metapher von der „Schlachtbank der Geschichte“ auf den Punkt gebracht hat – Shoa, Gulag, Pol Pot, Genozid in Ruanda.

Bereits über die Differenz der beiden Titel gelangt man geradewegs ins Hobsbawmsche Denken. Das Adjektiv „interesting“ bezieht sich stärker auf die Analyse- und Erklärungstätigkeit des Historikers als auf die Geschehnisse selbst, die im 20.Jahrhundert so oft in Barbarei ausarteten. Hobsbawm ist vom Faktencharakter der Geschichte überzeugt, er vergleicht die Tätigkeit des Historikers mit kriminalistischer Arbeit, detektivischer Kombinatorik und der Würdigung der Beweise in einem Gerichtsverfahren. Wobei er den gesellschaftlichen Fortschritt, das Lernen aus Geschichte, aber auch den Fortschritt in der Geschichtswissenschaft selbst eher skeptisch beurteilte: Gesellschaftsanalyse ist bei Hobsbawm stets ein Kampf um eine differenzierte Sicht und gegen Barbarei – „doch selbst wenn man bestreitet, dass überhaupt Fortschritte zu erzielen seien, gibt es niemanden, der bestreiten könnte, dass mir diese Arbeit großes Vergnügen bereitet“.

Engländer, Ägypter, Wiener

Eric Hobsbawm sagt über sich, dass er eine eigentümliche Art Wiener ist: in Ägypten geboren und zweitens Engländer; die Mutter Nelly Grün allerdings war eine gebürtige Wienerin, aus gutbürgerlichem Haus, die Tochter eines jüdischen Juweliers. Zur Matura wurde ihr eine Reise geschenkt, und sie entschied sich für Ägypten, wo die Familie Verwandte hatte. Dort lernte sie Percy Hobsbawm kennen, der im Land geschäftlich tätig war. Die beiden heirateten in der Schweiz, kehrten 1918 nach Wien zurück.

Die wienerisch-englisch-jüdischen Wurzeln, das Spannungsfeld zwischen England und Zentraleuropa – der Vater seines Vaters kam aus Polen und hieß Obstbaum – haben Hobsbawms kosmopolitische Haltung und Interessen geprägt. Nach dem frühen Tod der Eltern kam der 14-Jährige zu seinem Onkel nach Berlin. Die zwei Jahre in Berlin, damals „eine Stadt zum Sehen statt zum Stehen“, wurden zur wichtigsten Zeit in seinem Leben: Der Untergang der Weimarer Republik, die Aktionen von Braun und Rot, die Demonstrationen, die ihn heute an jene der jungen Radikalen von 1968 erinnern, die Lektüre von Karl Kraus, Bert Brecht, Karl Marx politisierten ihn nachhaltig. Inhalte und Motive von damals waren für ihn prägend – aber auch Texte und Melodien, von denen er viele heute noch auswendig kann, z.B. das Erich-Weinert-Lied: „Keenen Sechser in der Tasche, bloss'n Stempelschein, durch die Löcher der Kledasche schaut die Sonne rein... – Stellste dir zum Stempeln an, wird das Elend nicht behoben. Wer hat dich du armer Mann abjebaut so hoch da oben...“

Mit 16 Jahren wusste er, dass und wozu er den Beruf des Historikers wählen wollte. Im Frühjahr 1933 verließ Eric Hobsbawm Berlin. Seine Laufbahn begann mit einem Stipendium am King's College in Cambridge, damals wissenschaftlich und politisch gleichermaßen anregend und fruchtbar. Nach seinem Dienst bei der britischen Armee (bis 1946) und einem verstärkten Engagement in linken nationalen und internationalen Gruppierungen und Netzwerken wurde er 1947 Lehrbeauftragter am Birkbeck College, wo er bis zu seiner Emeritierung 1982 lehrte. Professuren hatte er u.a. an der Stanford University, dem Massachusetts Institute of Technology, der Cornell University, der École des Hautes Études en Sciences Sociales, am Collège de France und an der New School for Social Research in New York inne.

Motive der Rebellen und Banditen

Eric Hobsbawm war einer der großen Anreger für eine Geschichtsforschung, die sich seit den Sechzigerjahren aus den Traditionen eines auf Persönlichkeiten und Ereignisse fokussierten, theoriefeindlichen und theoriefernen Umgangs mit Geschichte befreite. Das ausschließliche Interesse an politischer Ereignisgeschichte und den Männern, die sie mach(t)en, schloss die Mehrzahl der Menschen aus der Geschichte aus: Die einfachen Leute, die Arbeiter, die Angehörigen der ländlichen und städtischen Unterschichten, die Randgruppen und die absolute Mehrheit, die Frauen, kamen in der Geschichte kaum vor, weder als Akteurinnen und Akteure noch als Gegenstand.

Hobsbawms Bücher über „Sozialrebellen“ (erstmals erschienen 1959 als „Primitive Rebels“) und „Banditen“ (1969) lenkten den Blick der Forschung gleichermaßen auf Strukturen, in denen Banditen, Räuber und Rebellen agieren, wie auf deren Rituale, Symbole und die Mythen und Erzählungen, in denen über sie – in ganz Europa in ähnlichen Geschichten – berichtet wird. Hobsbawm interessieren die Strukturen, innerhalb derer Räuber und Sozialrebellen handeln, ihre Motive, ihre Möglichkeiten, wie sie gesehen wurden, was sie bewirkten. Er folgt dabei einem Postulat, das Norbert Elias auf den Punkt gebracht hat: Historiker und Soziologen müssen Mythenjäger sein.

Die Erfindung der Tradition

Mit Terence Ranger hat Hobsbawm in diesem Zusammenhang der Mythenkritik den Begriff „the invention of tradition“ geprägt. Das gleichnamige Buch zeigt, wie diese erfundenen Traditionen Gruppenidentitäten fundieren und festigen und damit auch bewusst dazu eingesetzt werden, Machtansprüche zu legitimieren. In all seinen Büchern zerstört Hobsbawm nostalgisch-romantische Vorstellungswelten jeder Art von Helden, gleich ob in der Politik, in der Rebellion gegen politische Macht oder in den Übergangszonen – dort, wo Banditen in die Politik wechselten.

Hobsbawms gesellschaftsgeschichtlich-historisch-anthropologischer Zugang zu den Lebenswelten, in denen die Menschen ihre Gestaltungsräume haben, in denen Ideen entstehen, Träume und Sehnsüchte sich entfalten und sich stets auch ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Glück manifestiert, eröffnet gleichsam eine Innenansicht der Gesellschaft; und die ist überall gleichermaßen analysebedürftig und interessant; gleich wo man ansetzt: in den Headquarters der Wirtschaftsmacht, bei Banditen, Guerillas und Rebellen und nicht zuletzt in den Kunstszenen und -räumen, für die sich Hobsbawm immer ganz besonders interessiert hat. Hobsbawm, der glänzend schreibt und packend berichtet, hätte sein Leben wohl auch als Jazzkritiker verdienen können. Und als er am Samstag in Wien bei der Finissage seines verstorbenen Freundes, des Malers Georg Eisler, Christian Muthspiel spielen hörte, spürte man, wie Jazz bei ihm einen zentralen Lebensnerv aktiviert.

Hobsbawm hat zeitlebens ein Engagement für soziale Gerechtigkeit mit der strikten Ablehnung jedes Dogmatismus verbunden. Der ungeheuer große Fundus seiner historischen Analysen von ganz unterschiedlichen Gesellschaften rund um den Globus, aber auch von Globalgeschichte („The Age of Capital“, 1980; „The Age of Empire“ 1987; „Age of Extrems“, 1994) bestätigt seine These, die er bis heute mit ungebrochenem Engagement vertritt: Geschichte und Gesellschaft sind Gestaltungsräume, in denen der Wunsch von Akteurinnen und Akteuren nach sozialer Gerechtigkeit und Fairness immer durchleuchtet.

Gegen „Klima des Relativismus“

Die postmoderne Entwicklung der Geschichtswissenschaft, Geschichte nicht als Tatsachen, sondern als Texte und Erzählungen zu behandeln, macht ihn sichtlich ärgerlich: „Die Tendenz, Fakten als unwichtiger zu betrachten, schafft ein Klima des Relativismus. Es ist gefährlich, wenn wir eine Geschichte schreiben, die nicht danach beurteilt wird, ob sie wahr ist oder nicht, sondern danach, ob sich die Mitglieder einer bestimmten Gruppe damit wichtig machen.“

Die Welt nach Nine-Eleven braucht jedenfalls nicht nur sozialingenieurmäßiges Funktionieren – Schmieröl für die ökonomischen Machtapparate –, sondern auch fundierte Kritik: distanzierte, skeptische Beurteilung, die uns, so Eric Hobsbawm, ausstattet „mit einem klareren Auge, dem Sinn für historische Erinnerung und der Fähigkeit, zu den Leidenschaften und Werbesprüchen des Tages auf Distanz zu gehen“.

Hubert Christian Ehalt ist Wissenschaftsförderungsreferent der Stadt Wien und lehrt Sozialgeschichte an der Uni Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.01.2008)

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