Theater an der Wien: Sex? Wenn, dann ohne Spaß

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Strawinskys „The Rake's Progress“. Martin Kusejs Inszenierung könnte Youngsters gefallen. Harnoncourt lässt die Musik knusprig krachen.

Nahezu einhellige Begeisterung für Martin Ku?ejs und Nikolaus Harnoncourts pessimistische Deutung von Strawinskys „The Rake's Progress“ als Dokument sozialer Verwahrlosung angesichts alles beherrschender Medien. Anne Sofie von Otter als intersexuelle „Baba the Turk“ führt das glänzende Ensemble an. Vorweg zum vermeintlich Wichtigsten: Das Jugendverbot ist goldrichtig. Denn wie könnten Halbwüchsige besser auf Oper neugierig gemacht werden?

In einer Zeit, da Zwölfjährige Pornos via Handy austauschen, müssen härtere Mittel erlaubt sein, um den Kunstverstand des Nachwuchses zu wecken. Wenn die Youngsters dann mit gefälschten Ausweisen das Theater an der Wien diskret gestürmt haben und zuletzt fluchend draufkommen, dass Ku?ejs Inszenierung von Strawinskys „The Rake's Progress“ zwar keineswegs kreuzbrav, aber doch pädagogisch und aufklärerisch intendiert ist, dann haben sie zumindest eine mit größter Sorgfalt erarbeitete, schlüssige Musiktheateraufführung miterlebt.

Mehr können sich auch alle über 18 nicht wünschen, sofern sie einen Sinn für abstraktere, nicht auf Identifikation zielende Oper haben. Denn das Libretto zu diesem parabelhaften Lehrstück funktioniert als plakative, ironisch gebrochene Mixtur von Volksbuch- und Märchenvorbildern, in dem Typen agieren, keine Menschen. Ku?ej unternimmt nun nichts, um das Personal zu individualisieren, im Gegenteil: Ihn interessiert gerade die Austauschbarkeit und Banalität jenes Taugenichts Tom Rakewell. Er lässt ihn das Schicksal eines Kurzzeitpromis à la „Big Brother“, „Starmania“ usw. durchlaufen. Toby Spence trifft ihn darstellerisch und gesanglich eindrucksvoll, diesen unbedarften tenoralen Tunichtgut, der mit seiner Freundin zwischen Matratze, Bierdosen und Pizzaschachteln haust (Bühnenbild: Annette Murschetz). Von der ständig laufenden Glotze lässt er sich eine zuckerlbunte Welt vorgaukeln, die so picksüß verlockend wirkt, dass er sie nur zu gern für real hält und sich Geld wünscht, um dazuzugehören. Sehr zur Freude von Nick Shadow, jenem Teufel, der in Gestalt des charaktervoll tönenden Basses Alastair Miles ganz zeitgemäß die Spätzünderdämonie eines Anlageberaters verströmt (Kostüme: Su Sigmund). Der erste Weg des neureichen Tom führt, richtig, ins Puff. Eine freudloser Ort freilich, so ein Freudenhaus: Zu dieser ganz züchtigen Erkenntnis von Ku?ejs Gnaden muss kommen, wer die textilfreien Damen und Herren Statisten beobachtet, die nicht rasend glaubwürdig so tun, als hätten sie Sex, dabei aber höchst überzeugend vermitteln, keinerlei Spaß daran zu haben.

Am Ende allein im Irrenhaus

Was nun? Durch die Ehe mit dem Burgtheater-Star Baba the Turk könne Tom Freiheit erlangen, verspricht Nick – und auch die Aufführung befreite sich damit spürbar von lastenden Fesseln. Denn Anne Sofie von Otter stellte in dieser mittelgroßen Partie mit Abstand die saftigste, kräftigste Bühnenfigur des Abends dar. Im Original nur bärtig, ist diese herrliche Dame hier bestens bestückt – sozusagen die ultimative Hosenrolle für die schwedische Mezzosopranistin. Dass Baba ihren Pipimatz aber nicht erst in ihrer hinreißend glamourösen Performance zum ironisch-pompösen Szenenschluss den Paparazzi auf der Bühne (und dem Publikum) präsentiert, sondern der Gute bereits vorher mehrfach übers TV geflimmert war, lässt den Effekt etwas verpuffen, ist aber nur konsequent. Allerdings lebt die kluge Inszenierung gleichzeitig zumindest auch von genau jenen Schauwerten, die Ku?ej unserer Medienwelt ankreidet. Zuletzt, als Tom seine Seele längst an den Teufel verloren hat und im Irrenhaus gelandet ist (wo im Fernsehen der „Villacher Fasching“ läuft), ist er, das ist Ku?ejs düstere Konsequenz, allein. Auch seine Ann Trulove hat er verloren, vorbei die zuversichtlich jubelnden liebenden Soprantöne, die Adriana Ku?erová eindrucksvoll zu Gebote standen. Die abschließende „Moral von der Geschicht'“ und ihre persönlichen Erkenntnisse dürfen alle bei Barbara Karlich abladen. Noch das Scheitern wird profitabel und publikumswirksam ausgeschlachtet.

Dass die Aufführung so geschlossen erscheint, Nikolaus Harnoncourt und Ku?ej so gut harmonieren, liegt auch daran, dass beide keinerlei Weichzeichner im Repertoire haben. Strawinskys klassizistisch-zitathafte, dennoch niemals zitierende Partitur ähnelt einem Uhrwerk ohne Ziffernblatt: tickende Rädchen, die perfekt ineinandergreifen. Harnoncourt lässt die Musik knusprig krachen, wobei die konzentriert und sauber agierenden Wiener Symphoniker dafür garantieren, dass dennoch nichts trocken bröselt, sondern fleischiger, klangvoller tönt. Fürs nötige Quantum Rauheit braucht's eben Substanz – die in gewohnter Weise auch der Arnold Schoenberg Chor sowie Manfred Hemm, Carole Wilson und Gerhard Siegel zu bieten hatten.

Deprimierend war, dass die Produktion ihrerseits medialen Spielregeln unterlag, in der Vorberichterstattung das Jugendverbot spannender war als das Wesentliche, TV-Live-Einstiege das Dabeisein vorgaukelten, die Premiere mit ihrem unweigerlichen Promiaufmarsch als Society-Event verseitenblickt wurde: Es gibt kein Entkommen.

ZU DEN PERSONEN

„The Rake's Progress“: Strawinskys klassizistische Oper auf ein Libretto von W. H. Auden und dessen Lebensgefährten Chester Kallman wurde 1951 in Venedig uraufgeführt. Erstmals dirigiert Nikolaus Harnoncourt Strawinsky, zum vorerst letzten Mal inszeniert Martin Ku?ej in Österreich: Der Regisseur geht als Intendant ans Bayerische Staatsschauspiel nach München, die Produktion nach Zürich. Theater an der Wien: 15., 17., 21., 23. 11. Ö1: 22.11., 19.30 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2008)

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