Jelinek-Uraufführung: Massaker mit Ei

(c) EPA (Tobias Hase)
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Jossi Wieler inszeniert an den Münchner Kammerspielen „Rechnitz“. Die Schauspieler sind fantastisch. Die Bebilderung des gewaltigen 100-Seiten-Monologs wirkt zeitweise einfallslos und albern.

Essende Menschen schauen selten gut aus. Jossi Wieler, schweizerisch-israelischer Regisseur, Jelinek-Spezialist, treibt bei der Uraufführung von Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“ in den Münchner Kammerspielen die Obszönität des Mampfens auf die Spitze. Die Akteure zerkrümeln Pizza, schlabbern Kaffee, pampfen harte Eier. Am Ende schlecken sie Torte. Das Dritte Reich ist schwer verdaulich, liegt auch Jahrzehnte nach seinem Ende im Magen. Umso mehr muss bei seiner Verstoffwechslung für Unterhaltung gesorgt werden. Das gebietet schon die riesige Textfläche: 100 Seiten! Ohne Rollen, ohne Handlung. So lieben wir die modernen Dichter: maßlos, grenzenlos.

Wieler hält Trost parat: Let me entertain you! scheint er zu rufen. Er lässt die Schauspieler sich an-, aus-, umkleiden. Sie verschwinden zwischen den beweglichen Lamellen der Bauernstube mit Hirschgeweih, die später ihre schneeweiß gewaschene Fliesenkehrseite zeigt (Bühne & Kostüme: Anja Rabes). Die Mimen setzen sich Kopfhörer auf. Sie machen auf Show, als hätte sich Gottschalk mal was Neues einfallen lassen: „Wetten, dass wir auch die Nazis zur familienfreundlichen Samstagabendunterhaltung machen können?“ Also: immer fleißig grinsen und ins Publikum winken. Sogar unheimliche Elemente wirken auf diese Wiese harmlos. Aus einer Tür, die gelegentlich versehentlich einer öffnet, purzeln Gewehre, Pelzmäntel. Unterhaltungsmusik ertönt, einmal krachen Schüsse...

Der Mensch wird zum Tier, jederzeit

Im Wiener Volkstheater inszenierte vor Jahren Michael Wallner „Wolken.Heim“, puristisch und bedrohlich. Einer der echten Jelinek-Klassiker in Wien bleibt aber wohl „Das Sportstück“, überwältigendes zeitgeschichtliches Panorama in der Regie des verstorbenen Einar Schleef. Die jüngeren Regisseure schürfen nach dem Amüsanten im Werk der Nobelpreisträgerin für Literatur. Das ist legitim. Jelinek, auch eine Pop-Artistin, scheut ja keineswegs den Kalauer. Freilich: Hier wird durch alberne Scherze das Wuchtige, Erschreckende des Stoffes verwässert.

Jelinek erdachte für „Rechnitz“ ein geniales Patchwork: Sie verbindet das Massaker der SS 1945 an rd. 200 jüdischen Zwangsarbeitern im Schloss der Gräfin Margit von Batthyány, geborene Thyssen-Bornemisza, mit Euripides' „Bakchen“. Der Stückuntertitel „Der Würgeengel“ stammt von einem Buñuel-Film (1962): Nach einer noblen Party finden sich die Gäste eingeschlossen. Sie können das Haus nicht verlassen. Die Bourgeoisie ist in sich selbst gefangen. Draußen scheint es Unruhen zu geben. Die Polizei schreitet ein. Der Filmtitel ist dem Buch Exodus der Bibel entnommen: Gott straft die Ägypter, weil Pharao die Israeliten nicht ziehen lässt. Ein Engel tötet alle ägyptischen Erstgeborenen, die Juden bleiben verschont, weil sie ihre Türen mit dem Blut des Pessach-Lammes kennzeichneten.

„Die Bakchen“ wiederum handeln von Agaue und ihren Schwestern, die Dionysos mit Wahnsinn schlug; Agaue zerreißt in einem barbarischen Ritual ihren eigenen Sohn, der sich auf einer Fichte versteckt hat, um die Frauen zu beobachten. Der Mensch ist absolut und jederzeit anfällig, sich in einen Unmenschen zu verwandeln. Eine wirkliche Erklärung gibt es nicht, aber auch die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) reicht als Begründung nicht aus.

Das ist wohl eine der Botschaften Jelineks: „Dieser Sprung vom Mensch zum Tier ist ja so nichtssagend!, und so lange her!, und der vom Tier zum Mensch sagt auch nicht viel, so, da wollen wir also springen...“ Das Grauen ist zwar in diesem Fall an der SS und der Gräfin festgemacht – die es nicht verhinderte, sich vielleicht sogar am Massenmord beteiligte –, doch in Wahrheit ist die Vernunft allerorten am Kippen: im Organhandel, in der Schönheitschirurgie, in „harmlosen“ Erscheinungen wie dem Tourismus. In Jelineks reißendem Strom von Assoziationen tauchen immer neue Motive auf. Jeder mag nehmen, was ihn interessiert. Dass auch wirklich jeder Satz vernommen werden kann, dafür sorgen die fünf hervorragenden Schauspieler, allesamt Boten in Anspielung an die verschiedenen Versionen über das Massaker von Rechnitz: Katja Bürkle, André Jung, Hans Kremer, Steven Scharf, Hildegard Schmahl bringen den Text perfekt über die Rampe. Man schläft nicht ein, man steigt nicht aus. Das ist viel bei fast zwei Stunden Monologen – und das eigentliche Verdienst des Regisseurs.

Trotzdem geht man mit leichtem Befremden weg: Jelinek gehört heute zum „heiligen“ Literaturkanon, man könnte auch sagen zum Kanon der Theaterschickeria. Die sind wir alle. Wir hören ihr zu. Sind angemessen beeindruckt – und verteilen uns anschließend in den umliegenden Bars. Erschütterung, Katharsis? Kaum.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2008)

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