Südbahnhotel: „Strudlhofstiege“ ohne Strudelteig

(c) APA (Robert Jäger)
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Die Festspiele Reichenau zeigen eine szenische Fassung von Doderers Monumentalroman: In Maria Happels Regie, ein fulminantes Theaterereignis.

Sommerfrische-Atmosphäre im Südbahnhotel am Semmering. Gerade hat es noch geregnet. Nun scheint die Sonne durch die Fenster des Foyers. Dort begann Sonntagnachmittag Heimito von Doderers „Strudlhofstiege“. „Das Nonplusultra österreichischer Lebenshaltung“ nannte die Kritikerin Hilde Spiel (1911–1990) dieses 1951 erschienene Werk: „Hier ist, wie in einem gewaltigen Spiegel, die letzte mürbe Reife einer jahrhundertealten Kultur eingefangen. Aber der Spiegel maskiert nur eine Tür, die ins Schloss gefallen ist“. Ist sie ins Schloss gefallen? So viel anders als die Schauspieler, die durch den Raum eilen oder auf einem Podest die Aufführung beginnen, sieht das Publikum auch nicht aus, und es hat wohl auch ähnliche Probleme wie die Menschen im Roman.

Über 900 Seiten hat „Die Strudlhofstiege“. Sie spielt kurz vor und nach dem I.Weltkrieg, behandelt teilweise die Geschichte der Familie Doderer und ist nur unter Aufbietung äußerster Geduld vollständig zu lesen. Wie kann ein Theaterstück, das sich an den komplizierten Sätzen und Gedanken entlanghanteln muss, funktionieren?

Sona MacDonald brilliert als Etelka

Die Überraschung: Es funktioniert blendend. Das hat mit der intelligenten, witzigen Fassung zu tun, die Nicolaus Hagg, der auch den René Stangeler spielt, und Bernd Jeschek erarbeitet haben. Das Schwitzen über dem Text, das Doderers vertrackte Satzkonstruktionen notgedrungen erzeugt haben muss, merkt man gar nicht. Es ist, als wäre Doderers Buch ein Theaterstück.

Dennoch dürfte man sich mit dem Verständnis leichter tun, wenn man das Werk gelesen hat. Maria Happel hat inszeniert, und warum ihr dies so prächtig gelungen ist, führt sie selbst vor: klein, rundlich, ein Urbild sinnlicher Spielfreude. Happel brilliert, ob sie als mütterliche Kammersängerin Wett mahnend von den Wünschen trällert, die besser nicht erfüllt werden – oder ob sie als Hausmeisterin Frau Rak authentischer ist als jede echte Hausmeisterin. Dabei stammt die Burgschauspielerin aus dem Spessart. Was sah man da schon für peinliche Parodien österreichischen Dialekts.

Vom Foyer bis zum Dach wird das unverändert nobel verwitternde Hotel mit sprühendem Leben erfüllt. Das Ensemble ist durchwegs überzeugend bis grandios. Die Rollen wirken wie eine zweite Haut. Sona MacDonald spielt Etelka, die exzentrische ältere Tochter des Eisenbahnbauers Stangeler (Rudolf Melichar als würdiger, strenger Sir): Mit flatterndem Wesen und flatternden Lidern fliegt diese Frau der Moderne, die das Gefängnis traditioneller Verhaltensformen nicht mehr ertragen kann, von einem Mann zum anderen, bis der Skandal ihres Lebenswandels allzu offensichtlich wird und sie sich mit Schlaftabletten tötet.

Vergeblich versucht Etelkas Mann, der Diplomat Pista (vornehm, still: Roman Frankl), ihr wildes Wesen zu zähmen. Erst verführt sie den ebenfalls im diplomatischen Dienst tätigen Robby Fraunholzer (leidenschaftlich und sehr fesch: Christoph Zadra). Doch als dieser sich scheiden lassen will, ist sie schon bei der nächsten Eroberung angelangt. Nach einem wilden Tanz auf dem Dach des Hotels – das erstmals bespielt wird – bricht Etelka zusammen. Joseph Lorenz, als Prototyp des k.k. Gentlemans beim Publikum der Festspiele etabliert und sehr beliebt, konturiert mit feinen Manieren den grundanständigen Protagonisten Melzer, der nach dem Zusammenbruch der Monarchie bei der Tabakregie unterkommt. Melzer heiratet am Ende die jugendlich-naive süße Thea Rokitzer (reizend: Stefanie Dvorak). Thea hat wie noch andere Frauen zuvor beim zwielichtigen Otto von Eulenfeld Station gemacht: Jürgen Maurer zeigt ihn mehr als Getriebenen denn als Gauner. Eva Herzig stattet die Zwillingsschwestern Pastré mit Charme aus: Editha will für ihren künftigen Mann Zigaretten in großem Stil schmuggeln und spannt ihre Schwester Mimi dafür ein. Sie soll Melzer umgarnen und ihm die nötigen Papiere für den Schmuggel entlocken, Mimi, die in Südamerika verheiratet ist und nur kurz in Wien, verliebt sich aber in Melzer und er ein wenig in sie. Rainer Frieb hat als Kiebitz der Ereignisse, Georg von Geyrenhoff, das erste und das letzte Wort.

Die Aufführung lebt u. a. von malerischen filmischen Perspektiven. Selten findet man die (Wiener) Gesellschaft so treffend abgebildet. Selten ist die Illusion für den Besucher, mitten drin zu sein, so nachhaltig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2009)

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