Seyneb Saleh: „In sich zuhause sein ist wichtig“

Seyneb Saleh über Ortswechsel, das Schöne am Koran und „Das Narrenschiff“ im Volkstheater.

Sie ist in Aalen in Baden-Württemberg geboren, hat in Solingen und in Marokko gelebt, in Berlin studiert, in Graz und in Wien gespielt. Ab 9. September ist Seyneb Saleh, Apothekerstochter mit irakischen Wurzeln, in „Das Narrenschiff“ von Katherine Anne Porter im Volkstheater zu sehen: „Als Nazi-Schlampe Lizzi Spöckenkieker, eine große, blonde Walküre. Sie lässt sich auf ein Techtelmechtel mit dem Herausgeber eines Modemagazins ein, in dem rassistische Wissenschaftstheorien publiziert werden“, erzählt Saleh. „Das Narrenschiff“ ist auch ein Filmklassiker mit Vivien Leigh, Lee Marvin, Heinz Rühmann, Oskar Werner und vielen anderen Stars, der 1965 herauskam: Es geht um die Passagiere einer Schiffsreise, die 1933, kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, von Vera Cruz in Mexiko nach Bremerhaven fahren. Saleh hat den Film angeschaut und das Buch gelesen. Die Uraufführung im Volkstheater wird anders sein: „Wir verschmelzen Figuren miteinander und zeigen, wie sich durch politische Veränderungen rasch eine Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft entwickelt.“

Flüchtlingsdrama in der Familie. In Salehs eigener Familiengeschichte gibt es viele Verwerfungen. Als Kind war sie zwei Mal im Irak. Der Großvater hatte dort ein Taxiunternehmen, Brüder ihres Vaters arbeiten im Justizministerium, beim Militär und bei der Polizei. Das war ein Glück für ihren Vater. Als Jugendlicher hat er mit einem Freund Flyer gegen das Regime verteilt. Der Freund wurde hingerichtet. Die Brüder sorgten für eine Milderung der Gefängnisstrafe. Salehs Vater ging ins Ausland und studierte in Würzburg. Er heiratete eine Deutsche, die zum Islam übertrat – Seyneb Salehs Mutter. Musste Saleh, die älteste von drei Töchtern, ein Kopftuch tragen? „Nein. Mein Vater ist liberal. Er sagte zu mir: Es ist deine Entscheidung, was du willst. Meine Mutter meinte: Ein Kopftuch in Europa, auf keinen Fall!“ Die Religion fasziniert Saleh: „Das Schöne am Koran ist, dass Gott als Licht, Energie, Welle oder Kraft beschrieben wird. Ich mag einfach die Aura in sakralen Räumen.“ Durch die häufigen Ortswechsel der Familie musste sie sich oft in neue Schulen eingewöhnen: „Die Grundschule war evangelisch, ich war zwar vom Religionsunterricht befreit, aber er hat mich interessiert, darum bin ich hingegangen. Auf der katholischen Mädchenschule war ein Mal in der Woche Beten, da war ich auch vom Religionsunterricht befreit, aber ich dachte, ich schaue mir das einmal an. Die katholische Schule war etwas merkwürdig. Die Lehrerin meiner Schwester hat einen Riesenaufruhr gestartet, ,Harry Potter‘ wurde aus der Bibliothek verbannt, weil sie Angst hatte, wir lernen die Zaubersprüche auswendig und verhexen die Lehrer.“

Hauptsache Freunde. In „Lost and Found“ von der israelisch-österreichischen Autorin Yael Ronen, im Volkstheater zu sehen, geht es auch um Salehs Familiengeschichte. Konkret: um einen ihrer Cousins. „Ich habe sehr viele Cousins und Cousinen. Von den zehn Geschwistern meines Vaters hat jeder drei bis acht Kinder.

Mein Vater rief mich eines Tages an und sagte: Dein Cousin ist nach Europa geflüchtet. Dann hat er nochmal angerufen und gesagt: Er ist jetzt am Wiener Hauptbahnhof, hol’ ihn ab.“ Der junge Mann hat eine wahre Odyssee hinter sich: „Er ist 26 Jahre alt und seit zehn Jahren auf der Flucht“, berichtet Saleh, „er hat Wirtschaft studiert und abgeschlossen, er ist Experte für 3-D-Animation und hat in der Türkei in einem Architekturbüro gearbeitet. Er war im Libanon, in Syrien, noch einmal in der Türkei. Alle zwei Jahre muss er das Land wechseln. Er war Musiker, hat Gitarre gespielt, ist in Mossul aufgetreten. Er trägt lange Haare und ist ein sehr offener, liberaler Mensch. Sein Vater sagte ihm: Du musst weg. Soldaten brachen ihm die Hand, jetzt kann er nicht mehr Gitarre spielen. Er lebt nun in einer WG mit Österreichern und Deutschen und wartet auf seinen Asyl­bescheid.“ Wie geht man mit so einem Schicksal in der Familie um? „Wenn ich meinen Cousin treffe, das zieht mich schon manchmal sehr hinunter. Ich sehe seine Motivationsschübe, wie er sagt: Ich muss weiter lernen, und dann auf der Universität Kurse in 3-D-Animation belegt, wo er sich längst auskennt, nur, damit er Kontakt zu Leuten findet, die ihm Arbeit geben. Dann gibt es Phasen, wo er total in ein Loch fällt und sich denkt: Mein Asylantrag wird abgelehnt, wo soll ich hin?“

Was bedeutet Heimat für sie selbst? „Ich bin früh ausgezogen. Ich habe gelernt, dass ich überall zuhause sein kann, dass es wichtig ist, in sich zuhause zu sein und mit Menschen in Verbindung zu bleiben, die man kennt. Das viele Wechseln hat mich stärker und unabhängiger gemacht.“ Ein Weg dazu war die Schauspielerei. Saleh hat an der Universität der Künste in Berlin studiert, spielte am dortigen Deutschen und am Gorki-Theater. Von 2012 bis 2015 war sie am Grazer Schauspielhaus engagiert. Nach „Das Narrenschiff“ ist ihre nächste Produktion am Volkstheater „Niemandsland“ von Yael Ronen: „Es geht darum, wie sich der Krieg über Generationen im Privatleben niederschlägt.“

Tipp

„Das Narrenschiff“, ab 9. 9., „Niemandsland“, ab 24. 9., beide am Wiener Volkstheater.

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