Die Hölle, das ist der Ausdruckstanz

„10000 gestes“ von Boris Charmatz
„10000 gestes“ von Boris Charmatz (c) Tristram Kenton/Wiener Festwochen
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„10000 gestes“ bei den Wiener Festwochen: eine Posenparade, die schlecht zu Mozarts Requiem passt.

Es mag legitim sein, Mozarts Requiem zu vertanzen – 2017 bei der Salzburger Mozartwoche geschah das sogar mit einem Pferdeballett –, doch bei „10000 gestes“ von Boris Charmatz hat man kaum je das Gefühl, dass die Posen der Tänzer etwas mit diesem gewaltigen Werk zu tun haben, bei dem man nie wirklich weiß, ob die Freude, die es ausstrahlt, einen himmlischen Sieg über die Angst vor Tod und Verdammnis bedeutet oder deren Verdrängung.

Bodengymnastik zum Dies irae, Sprinttraining zur Tuba mirum: Nein, blasphemisch wirkt das nicht, aber gleichgültig. Manchmal, als wären die 23 Tänzerinnen und Tänzer wirklich nur darauf aus, die 10.000 Gesten zu erledigen, die ihnen Charmatz, Leiter eines ortlosen Musée de la danse, angeblich vorgeschrieben hat: als beschränkten Kanon der Ausdrucksformen menschlichen Lebens. Dann wieder, als seien sie Akteure einer hysterischen Selbsterfahrungsgruppe, die sich zwingen, alle Zwänge aus dem Leib zu schütteln und zu schreien.

Höhepunkt: Kollektive Hysterie

Bis an einer Stelle die kollektive Hysterie höllisch wird, sodass man an die teuflische Beschreibung der Confutatio in Thomas Manns „Doktor Faustus“ denkt: an das „Gilfen und Girren, Heulen, Stöhnen, Brüllen, Gurgeln, Kreischen, Zetern, Griesgramen, Betteln und Folterjubel, sodass keiner sein eigenes Singen vernehmen wird, weil's in dem allgemeinen erstickt, dem dichten, dicken Höllengejauchz und Schandgetriller“. Und dazu, darunter weiter Mozart!

Das erregt, schreckt, packt. Doch bald versiegt die Intensität wieder in der Ausdruckstanzroutine. Als die Zeit (insgesamt 50 Minuten) schon lang zu werden droht, erobern die Tänzer die Tribüne, turnen und toben durchs Publikum, rempeln, berühren oder küssen den einen oder die andere, der Journalist wird böse gefragt: „What do you write here?“

Aber gar nichts. Alles nicht so wild. Man kann sich nur gut vorstellen, wie dieses mit Programmheftphrasen bemäntelte Kunsthandwerk dazu beigetragen hat, an der Berliner Volksbühne die unglückliche Ära des Chris Dercon zu beenden: Charmatz war einer seiner Stars.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2018)

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