Der Homo burocraticus ist nicht auszurotten

Streamingtipps. Vor 30 Jahren verleitete die „Gurkenkrümmungsverordnung“ zu Spott und Kopfschütteln. In Filmen und Serien treibt es der Bürokratiewahnsinn noch viel weiter: fünf Empfehlungen zum Lachen und Fürchten. VON MARTIN THOMSON

Brazil

Als die EU vor genau 30 Jahren den Krümmungsgrad von Salatgurken festlegte (maximal 10 mm auf 10 cm Länge), hatten Populisten, Journalisten und Kabarettisten das perfekte Sinnbild gefunden, um den mutmaßlichen Bürokratisierungs- und Regulierungswahn aus Brüssel zu verspotten. Dass eine ähnliche Norm für heimische Landwirte bereits seit 1968 galt und bloß der Bitte internationaler Gemüsehändler nachgekommen worden war, übersah man dabei gern. In dem bürokratisch und autokratisch regierten Überwachungsstaat, der in „Brazil“ entworfen wird, nimmt man es mit der Wahrheit ebenfalls nicht so genau. Selbst die Fahndung nach „Terroristen“ überlässt man hier Maschinen, wodurch ein unbescholtener Familienvater aufgrund eines Tippfehlers zu Tode gefoltert wird. Sam Lowry (Jonathan Pryce), ein kleiner Angestellter aus dem Informationsministerium, gerät in ein Labyrinth undurchsichtiger Verhältnisse und sieht sich anonymen Mächten ausgeliefert, als er den Fall behördlich aufarbeitet. Terry Gilliam stellt technisch-instrumentelles Denken und Handeln als fehleranfällig, unmenschlich und absurd bloß. Eine Gurkenkrümmungsverordnung wäre in seiner kafkaesken Dystopie wohl das geringste Problem. Amazon

Paperland: The Bureaucrat Observed

Der Homo bureaucraticus habe schon am Bau der Pyramiden mitgewirkt und sei resistent gegenüber Revolutionen, erklärt der Erzähler aus dem Off – und macht den gewagten Vergleich zwischen ihm und der gemeinen Kakerlake, die ebenfalls seit Urzeiten existiert und selbst einen Atomkrieg überleben würde. Dazu bekommt man den Berufsalltag von Aktenfressern auf der ganzen Welt (auch in Österreich) zu sehen. Obwohl schon fast vierzig Jahre alt, ist die halb ironische, halb ernste Polemik des kanadischen Dokumentarfilm-Essayisten Donald Brittain, die wie eine Tierdoku über eine unausrottbare Spezies daherkommt, so zeitlos wie die Herrschaftsform der Bürokratie. Auf der Website des National Film Board of Canada ist sie gratis zu sehen. nfb.ca/film/paperland

Stromberg 2004–2012, fünf Staffeln

Der Ressortleiter der Abteilung Schadensregulierung M–Z der Capitol Versicherung AG ist taktlos, inkompetent, manipulativ, präpotent, verlogen, übergriffig, sexistisch, rassistisch, einfältig und ein peinlicher Witzereißer. Und er verkörpert diese negativen Eigenschaften (eine gute tritt in allen 46 Episoden der Comedy-Mockumentary-Serie nie hervor) auf eine unverkennbar deutsche Art. Aber zugleich ist Bernd Stromberg (Christoph Maria Herbst) auch eine tragische Figur, die weder Freunde noch Familie, weder Hobbys noch sonst irgendein Privatleben hat. Und die wohl vor Scham im Boden versänke, wenn sie zu einer kritischen Betrachtung ihrer selbst imstande wäre – selig sind die Narzissten, denn ihnen gehört hier der Chefsessel. Netflix

MA 2412 1998–2002, vier Staffeln

Wer die Dienststube des Amts für Weihnachtsdekoration betritt, ohne sich bei der Sekretärin eine Nummer besorgt zu haben, wird angeschnauzt, weitergeschickt oder zum Warten verdonnert. Wer sie sich geholt hat, ebenfalls. Eine Garantie dranzukommen gibt es ohnehin nicht. Alles hängt von der Laune der arbeitsfaulen Beamten (Roland Düringer als ekliger Spießer, Alfred Dorfer als schnöseliger Prolo) ab. Die ORF-Sitcom ist eine zwerchfellerschütternde Satire aufs österreichische Bürokratentum – 34 Episoden voll wienerischem Wortwitz, derben Pointen und bewussten Blödsinnigkeiten. Wenn es im echten Magistrat doch auch nur so amüsant zuginge . . .Flimmit

Die 727 Tage

ohne Karamo

„Wir haben die Papiere nicht zusammenbekommen“, gesteht eine Frau mit verrutschtem Gesicht und zitternder Stimme. Da hätte sie mit ihrem Gatten beschlossen, dass er zuerst in sein Heimatland zurückkehrt. „Seitdem kämpfe ich“, sagt sie und wühlt weiter durch dicke Aktenordner. Seine heutigen Behördengänge hätten einmal wieder nicht das gewünschte Ergebnis erbracht, beichtet ein Mann seiner weit entfernten Frau per Skype. Er sei an den Unterlagen gescheitert. Jemand anderer liest den negativen Asylbescheid seines Partners vor, der im kalten Beamtendeutsch verfasst ist. Anja Salomonowitz' Dokumentarfilm handelt von binationalen Paaren, deren Liebe von den Mühlen der österreichischen Bürokratie zermürbt wird oder bereits zerstört wurde. Bürokratie, meinte einst der Soziologe Max Weber, verhindere die Bevorzugung oder Benachteiligung Einzelner in Form von willkürlichen Entscheidungen. Als gesichtslose Nummer sind wir alle gleich. Aber diese angebliche Neutralität, kritisieren andere, verschleiere bloß strukturelle Ungleichheit: Manche haben das Fachwissen, das Einkommen, die „richtige“ Nationalität oder schlicht die Geduld, um vom herzlosen Papiermonster nicht zerstört zu werden – andere nicht. Flimmit

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2018)

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