Die spinnen, die Belgier – zumindest auf ihren tollen Bühnen

Was macht die Schauspielszene in Brüssel, Antwerpen und kleineren flämischen Zentren über die Grenzen hinweg so interessant?

Nicht alles was aus der belgischen Kunstszene kommt, bewährt sich in der Fremde. Ein aktueller Fall: Chris Dercon (*1958 in Lier) war in seiner Heimat ein angesehener Kurator, er avancierte zum Direktor des Hauses der Kunst in München, leitete dann die Tate Gallery of Modern Art in London. Im Vorjahr übernahm er die Volksbühne in Berlin, die von Frank Castorf zu einer Institution der Postdramatik gemacht worden war. Dercon, der sogar diese Spätform des Theaters dekonstruieren wollte, scheiterte nach nicht einmal einer Saison spektakulär – Budget verbraten, Zuschauer weg, Intendant weg.

Österreich hat mit Belgiern meist bessere Erfahrungen. Frie Leysen etwa (* 1950 in Hasselt) war im Team von Markus Hinterhäuser 2014 die Letzte bei den Wiener Festwochen, die wusste, wie man Theaterpublikum mit anspruchsvollem Programm anlockte, ehe 2017 mit dem unglücklich agierenden Festwochenchef Tomas Zierhofer-Kin (*1968 in Salzburg) rasanter Verfall einsetzte. Er besorgte innerhalb zweier Jahre die „Derconisierung“ Wiens. Seine Grundidee der Erneuerung war wohl richtig, aber mit Überheblichkeit kann man in kurzer Zeit sogar ein solides Festival ruinieren, mit hermetischem Kuratoren-Diskurs, offener Verachtung des Stammpublikums und schlechtem Geschmack, der Langeweile fördert.

Bei Leysen war das anders. Die Gründerin des Kulturzentrums deSingel in Antwerpen und des Kunstenfestivaldesarts hatte in Wien mit Internationalität und Innovation Erfolg. Sie verabschiedete sich nach nur einem Jahr von den ihrer Ansicht nach behäbigen Festwochen mit herber Kritik. Das grundlegende Problem des Festivals sei die fehlende Vision: „Nie gab es im künstlerischen Leitungsteam eine Grundsatzdiskussion und ein Nachdenken darüber, was ein Festival heutzutage bedeuten könnte oder sollte – für die Künste, die Künstler, das Publikum und die Gesellschaft, auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene“, so Leysen in einem offenen Brief im Magazin „profil“.

Biertrinken und Waffen produzieren

Sie schöpfte aus bester belgischer Erfahrung. Dieses kleine Land ist reich an tollem Theater, das stets auch Neues sucht, raffiniert Sparten überwindet. Solchen Pioniergeist gibt es vor allem im flämischen Teil Belgiens. Sein „Theaterwunder“ floriert seit Jahrzehnten. Fast könnte man behaupten, dass Belgiens Bühnen nach dem deutschen Regietheater die wichtigsten Akzente auch in unserer Kulturlandschaft setzten.

Ein Großer, der bei den Wiener Festwochen schon vor drei Jahrzehnten entzückte, ist Jan Fabre (*1958 in Antwerpen). Der Maler, Dramatiker, Regisseur und Choreograf hat bisher mehr als dreißig Tanz-, Theater- und Opernproduktionen geschaffen, jüngst den 24-Stunden-Marathon „Mount Olympus“ – bei aller Länge eine spannende tänzerische Huldigung an den wilden Gott Dionysos. 2016 war das schweißtreibende Spektakel in Wien zu erleben. Fast einhellige Begeisterung weckte im Vorjahr beim ImPulsTanz-Festival die Uraufführung von „Belgium Rules“, eine Kulturgeschichte dieses schrulligen Landes mit großer Geschichte und tiefer Bedeutung für die EU. Zu den belgischen „Rules“ zählen Biertrinken, Waffen produzieren und sich ständig gegen den übermächtigen Schatten Frankreichs, dem man sich zugleich anbiedert, auflehnen.

Eine legendäre Aufführung bot auch Luk Perceval (*1957 in Lommel), der mit dem Autor Tom Lanoye (*1958 in Sint-Niklaas) 1999 bei den Salzburger Festspielen Shakespeares Königsdramen als „Schlachten!“ inszenierte: Acht Stunden skrupellose, brutale Machtspiele mit eitlen, perversen, Ränke schmiedenden Herrschern und ihren Damen. Grell, atemberaubend war diese Aufführung. Das Großformat schätzt auch Ivo van Hove (*1958 in Heist -op-den-Berg) der die Toneelgroep Amsterdam leitet und für Avantgarde-Experimente Off-Broadway berühmt ist. Bei den Festwochen hat man von ihm u. a. seriellen Shakespeare gesehen, ähnlich wie bei Perceval – fünf, sechs Stunden am Stück Römische Tragödien oder Königsdramen, packend bis überfordernd.

Jan Lauwers (*1957 in Antwerpen) und Choreografin Grace Ellen Barkey (*1958 in Surabaya, Indonesien) reüssierten mit der Needcompany ebenfalls in Salzburg, durch mythisch anmutende Gesamtkunstwerke. Ihre vielsprachige, internationale Truppe zeigte fulminante Gastspiele in Wien. Sie ist auf ihre Art so stilbildend wie die Kunst der Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker (*1960 in Mechelen), die mit der Kompanie Rosas den Tanz revolutionierte. Als Artist in Residence am Burgtheater hatte Lauwers weniger Fortüne. Dennoch zählt er weiterhin zu den wichtigen Impulsgebern aus Belgien. So wie er sind all diese Theatermacher zwar keine Youngsters mehr. Das aber vergisst man in ihren Inszenierungen meist rasch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2018)

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