Musikalische Begegnungen zwischen Himmel und Erde

(C) Incontri in Terra di Siena
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Toskana. Die sienesische Erde ist offenbar auch musikalisch besonders fruchtbar: Sie hat etliche Festivals hervorgebracht, die exquisites Programm an außergewöhnlichen Spielorten bringen. Von den Incontri über die Chigiana bis zum Collegium Vocale Crete Senesi: eine Sommerreise.

Es war einmal eine britisch-amerikanische Schriftstellerin, die verliebte sich in einen italienischen Marchese namens Origo. Gemeinsam verschauten sie sich in das Landgut La Foce, erwarben und renovierten es – und verhalfen dem benachbarten armen Val d'Orcia zu wirtschaftlichem Aufschwung. Ihnen wurde eine Tochter namens Benedetta geboren, diese verlor ihr Herz an den weltberühmten Violinisten und Menuhin-Schüler Alberto Lysy. Die Frucht ihrer Liebe, Antonio, tauschte die Geige gegen das Cello und beschloss nach Ende seines Studiums, am Stammsitz derer von Origo ein Festival zu gründen: die Incontri in Terra di Siena.

Heuer feierten diese Begegnungen ihr 30-jähriges Jubiläum. Ihr Erfolgsgeheimnis? Weltklassemusiker an außergewöhnlichen Spielorten. Der schönste ist wohl die Locanda dell'Amorosa in Sinalunga, die man nach langer Fahrt durch eine Zypressenallee erreicht. Eine typisch toskanische Fattoria, die aber einen ganz eigenen Zauber ausstrahlt. Jedenfalls will jeder Gast, der ihren riesigen Innenhof zum ersten Mal betritt, sofort ein Zimmer mieten, und elfjährige Mädchen schwören beim Anblick der Kapelle, dass sie nirgendwo anders heiraten würden als in der Locanda dell'Amorosa.

Anders bezaubernd ist das Teatro degli Avvaloranti in der Città della Pieve, eines jener intimen, liebevoll bemalten, knapp 2000 Personen fassenden italienischen Theater, in denen man sich sofort zu Hause fühlt. Architektonisch uninteressant ist der Granaio del Belvedere in Castelluccio. Dafür ist die kleine Bühne direkt vor dem atemberaubenden Panorama des Monte Amiata und des Val d'Orcia aufgebaut. Die Origo-Burg La Foce wiederum ist gartentechnisch faszinierend, mit ihren penibel manikürten Hecken aber auch ein wenig kalt und abweisend.

„Pastorale“ eines Missionars

Den ungewöhnlichen Spielorten entspricht ein ungewöhnliches Programm. So gab es zur Eröffnung eine „Pastorale“ des in Südamerika bei der Missionierung verstorbenen Mönchs Domenico Zipoli sowie ein Flötenkonzert des selbst anwesenden Musikologen unbekannten französischen Komponisten François Devienne. Im Folgenden: rare Werke von Poulenc, Ravel, Debussy, Carl Nielsen, Ralph Vaughan Williams und – nachhaltig beeindruckend – das Quintett von Ernst von Dohnányi aus dem Jahr 1914. Alles dargebracht von Weltklasseinterpreten wie Leif Ove Andsnes oder Emmanuel Pahud.

Der sienesischen Erde werden landwirtschaftlich günstige Eigenschaften nachgesagt, aber auch musikalisch scheint sie besonders fruchtbar. Denn außer den Incontri gibt es im Umkreis von wenigen Kilometern noch einige andere renommierte Sommer-Musikfestivals: etwa die Chigiana in Siena selbst (heuer mit Stockhausen-Schwerpunkt) und das von Hans Werner Henze gegründete Cantiere Internazionale d'Arte in Montepulciano (heuer u. a. mit Cimarosas „L'impresario in angustie“). Jünger ist das Collegium Vocale Crete Senesi in Asciano, einem kleinen Straßendorf, in dessen Nähe der belgische Dirigent Philippe Herreweghe ein altes Bauernhaus erworben hat. Und da Künstler keine Ruhe geben können, gründete er gleich ein Festival hier, das ähnlich funktioniert wie die Incontri. Doch wo sich diese anfühlen wie die Afterwork-Party britischer Multimillionäre, hat Herreweghes Festival eher die Aura einer Happy Hour des flämischen Mittelstands. Und dreimal so viele Zuschauer. Gespielt wird in der vielleicht magischsten Abbazia der Welt in Sant'Antimo, im einsam in der Landschaft stehenden Pieve Santo Stefano, im geheimnisumwitterten Kloster Sant'Anna in Camprena (wo „Der englische Patient“ gedreht wurde), in der Basilica Sant'Agata etc.

Unvergesslich: ein Erik-Satie-Abend

Entsprechend sind die Musikstücke hier auch mehr auf der spirituellen Seite angesiedelt: Hildegard von Bingens „Ego sum Homo“, Madrigale von Martinu, Beispiele aus der mittelalterlichen Antiphon-Kultur aus Zypern. Am unvergesslichsten blieb der Satie-Abend in der aufgelassenen Franziskanerkirche von Asciano. Die unvergleichliche Barbara Hannigan sang die „Trois mélodies“ und „Trois autres mélodies“ extrem delikat. Und dann geschah noch ein größeres Wunder: Reinbert de Leeuw, so hager und durchsichtig, dass man fast Angst hatte, ihn genauer anzuschauen, spielte auf mindestens ebenso fragile Weise die „Gnossiennes“ von Satie: Die Töne schwebten zwischen Himmel und Erde, vermischten sich mit den verwaschenen franziskanischen Fresken zu einer minimalistischen Meditation. Entrückt, entmaterialisiert, denkwürdig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.08.2018)

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