Cirque Nouveau: Die humanistische Macht der Manege

Velozipedisten-Brassband: Circa Tsuica mit der Produktion „Maintenant ou jamais“.
Velozipedisten-Brassband: Circa Tsuica mit der Produktion „Maintenant ou jamais“. (c) Picasa/ Berthe Pommery
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Das Salzburger Winterfest zeigt zum Auftakt Zirkuskunst aus Frankreich und Marokko: über eine Brassband, die das Fahrrad liebt, maghrebinische Turbulenz an der Salzach und die Wirkkraft des Egalitären.

Die 243 unmöglichsten Arten, ein Fahrrad zu besteigen. Die hohe Schule der Heilmassage mit der Basstuba. Und wieso ein Perkussionist manchmal ein Trapez dringend nötig hat. Das alles und noch einiges mehr bietet derzeit und bis Anfang Jänner die französische Truppe Circa Tsuica mit ihrer Produktion „Maintenant ou jamais“ („Jetzt oder nie“) beim diesjährigen Winterfest im Salzburger Volksgarten. Und dieses „Jetzt oder nie“ ist in Wahrheit sehr viel mehr als bloß der Titel einer einzelnen – zugegeben berührenden, mitreißenden, alle Sinne erfassenden – Produktion. „Jetzt oder nie“, so lautet die Devise überall dort, wo es um das Metier geht, dem das Winterfest alljährlich einen Rahmen gibt: die Zirkuskunst.

Zirkuskunst? Ja, Zirkuskunst. Wiewohl selbst dem Duden das Wort Zirkus vorwiegend gleichbedeutend mit eher fragwürdigen Erbaulichkeiten wie „Wirbel“, „Pallawatsch“ oder „Ärger“ scheint: Was sich in den Manegen dieser Welt begibt, ist weit mehr als bloß Jux und Trallala. Es erinnert uns Auftritt für Auftritt und Tusch für Tusch daran, was wir in künstlerischen Angelegenheiten anderwärts so oft vermissen: dass Kunst sich an alle adressieren soll und nicht nur an einen eng umgrenzten Kreis von Auserwählten.

Es wäre ein Leichtes, unsere hiesige Skepsis in zirzensischen Agenden der grundsätzlichen Geringschätzung zuzuschieben, die der deutschsprachige Raum allem Unterhaltsamen entgegenbringt. Tatsächlich rufschädigend ist etwas anderes: dass dieses Unterhaltsame ganz gezielt alle schicht- wie bildungsspezifischen Schranken unterläuft.

Kunst jenseits aller Schulmeisterei

Was der Zirkus zu sagen hat, das setzt nie mehr voraus, als hören, sehen, fühlen zu wollen. Wo er dieses Einverständnis verlässt, hört er auf, Zirkus zu sein. Das gilt von den simpelsten Vorstadtkompanien, die knapp am Existenzminimum entlang durch die kulturellen Brachen der Peripherien tingeln, bis zu den artifiziellen Elaboraten jenes Cirque Nouveau, der Schritt für Schritt selbst hierzulande, nicht zuletzt dank Veranstaltungen wie eben des Salzburger Winterfests, immer breitere Resonanz findet.

Ja, der Zirkus schämt sich niemals seines Publikums. Während in so vielen anderen Formen der Kunstausübung es längst zum guten Ton, mitunter gar quasi zur Voraussetzung publizistischer Anerkennung gehört, um Gottes willen doch nicht jedermann verständlich oder auch nur zugänglich zu sein, endet jede Zirkuskunst umgehend dort, wo sie sich dem Zuschauer verweigert. Egal ob Jongleur, Akrobat oder Clown, sie alle wollen ausnahmslos alle rund um sich erreichen; und während zeitgleich auf Bühnen, in Ausstellungshallen die Kunst so oft in erster Linie um sich selbst und um den Künstler kreist, kreist sie hier zunächst einmal um den innersten Kern jeder menschlichen Gemeinschaft: Sie sucht den Kontakt mit dem anderen, egal wer oder wie oder was er ist und was er mitbringt in diesen Dialog.

Genau in diesem Egalitären freilich, das ein Gutteil seiner Wirkmacht definiert, liegt zugleich jene nachgerade anarchistische Sprengkraft, die Zirkus in den allerbesten Fällen weit über den Manegenrand hinaus entfaltet: Hier wird niemand belehrt oder womöglich gar geschulmeistert – hier wird gemeinsam Fest gefeiert, ein Fest des Lebens und des Überlebens, das uns dort aufsucht, wo wir sind, und dort hinführt, wo wir so viel öfter sein sollten. Teil einer mitlachenden und mitzögernden, mitstaunenden und miterleichterten, einer rundum mitfühlenden und also im eigentlichen Sinn humanistischen Gemeinschaft – wenigstens für die Dauer einer Vorstellung und dann und wann womöglich ein gutes Stück darüber hinaus.

Furiose Fahrradexegese

Umso wunderbarer, wenn sich solche Ambition mit stupenden Fertigkeiten und einem ästhetischen Willen paart wie jenen, die Circa Tsuica vor uns ausbreitet. So wie sich die Kompanie selbst zuvörderst als Brassband versteht, die quasi nur ganz nebenbei halt Zirkus macht, tritt sie auch auf – als Virtuosen auf ihren Instrumenten, die eben beiläufig sich in die körperlichsten Kapriolen stürzen rund um den Gegenstand, der das Geschehen unterm Zirkuszelt wie das gemeinsame Leben der Protagonisten in einer kleinen Landgemeinde der Vendôme bestimmt: das Fahrrad.

Ergebnis: eine furiose velozipedistische Exegese, die im selben Ausmaß fasziniert wie sie uns einbezieht als Teil einer alle Sinne öffnenden Gemeinschaft auf Zeit, der nichts fremder ist als der Gedanke, einander fremd zu sein. Ein Stück weit distanzierter, was die Groupe Acrobatique de Tanger auf die Bühne zaubert: „Halka“, ein maghrebinisches Fest, als wäre der Volksgarten zu Salzburg wenigstens für diese eine Stunde ein marokkanischer Marktplatz, auf dem Musiker und Akrobaten bunt durcheinanderwirbeln. Und auch hier gilt: Jetzt oder nie. Der Augenblick allein ist es, der zählt. Kunst für den Moment, die uns umso nachhaltiger mitnimmt, je stärker sie an die Macht dieses Moments glaubt.

FESTIVALS IN SALZBURG UND GRAZ

Das Winterfest zeigt Circa Tsuica bis 6. Jänner, die Groupe Acrobatique de Tanger bis 15. Dezember, danach die kanadische Machine de Cirque und Post Uit Hessdalen aus Belgien (www.winterfest.at). Ein Gespräch mit der Intendantin finden Sie auf Seite 14.

Der Grazer Cirque Noël präsentiert ab 18. Dezember die australische Truppe Gravity & Other Myths im Orpheum, ab 21. Dezember Acrobuffos aus den USA, ab 2. Jänner die australische Company 2 in der Helmut-List-Halle (www.cirque-noel.at).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2018)

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